Die neue Verfassung, ein Pyrrhussieg für Mursi

Kairo. Ägyptens Moslembrüder haben noch jede Wahl seit dem Sturz Präsident Mubaraks gewonnen. Die Zweidrittel-Mehrheit im Referendum über den von ihnen und Präsident Mursi propagierten, hochumstrittenen Verfassungsentwurf überrascht deshalb nicht. Die beiden Wahlrunden erbringen ein Gesamtergebnis von etwa 64 Prozent "Ja"-Stimmen

Kairo. Ägyptens Moslembrüder haben noch jede Wahl seit dem Sturz Präsident Mubaraks gewonnen. Die Zweidrittel-Mehrheit im Referendum über den von ihnen und Präsident Mursi propagierten, hochumstrittenen Verfassungsentwurf überrascht deshalb nicht. Die beiden Wahlrunden erbringen ein Gesamtergebnis von etwa 64 Prozent "Ja"-Stimmen.In Wahrheit aber zerstreut dies nichts vom Zweifel an der Legitimität der ersten Verfassung für ein demokratisches Ägypten. Denn die Wahlbeteiligung lag mit 33 Prozent so niedrig, dass de-facto nur 21 Prozent aller wahlberechtigten Ägypter das neue Grundgesetz billigten - ein Pyrrhussieg für Mursi, der die tiefe Spaltung der Gesellschaft krass wie nie zu Tage fördert.

Da viele hochmobilisierte Anhänger der Moslembruderschaft ihr "Ja" für ein Dokument gaben, dessen Inhalt sie gar nicht kennen oder verstehen, gilt dieses Votum wohl vor allem dem Präsidenten. Andere stimmten für die Verfassung, weil sie sich von Mursis Argument überzeugen ließen, dass Ägypten nun den Weg zu "Recht und Ordnung", zu Stabilität und der heiß ersehnten wirtschaftlichen Erholung finden werde. Die Opposition sieht die Verfassung als "Verrat an ihrer Revolution" gegen Mubarak, da sie weder Menschenrechte, noch Meinungsfreiheit und schon gar nicht den Schutz der koptischen Minderheit garantiere. Sie bemängelt "gravierende Unregelmäßigkeiten". So wurden mancherorts Kopten an der Stimmenabgabe gehindert.

Die "Nationale Rettungsfront" (NRF), der jüngst unter Leitung von Friedensnobelpreisträger Mohammed el Baradei neugegründete Dachverband der Opposition, hatte schon vor Beginn des Referendums klargestellt, dass er selbst bei einem "Ja"-Votum die Verfassung anfechten werde. Denn die von Islamisten dominierte verfassungsgebende Versammlung habe sie ohne Konsens dem Land aufoktroyiert.

Radikalere Gruppen der Opposition sind zur Fortsetzung ihrer weitgehend friedlichen Proteste gegen Mursi und die Verfassung entschlossen. Für die bisher durch ihre Desorganisation und Zerstrittenheit den Moslembrüdern hoffnungslos unterlegene Opposition bieten sich nun neue Möglichkeiten. Der Streit um die Verfassung hat diverse Gruppen geeint wie nie zuvor. Diesmal gegen die Islamisten, für die einige der Revolutionäre lange Sympathie als vom Mubarak-Regime verfolgte Mitstreiter empfunden hatten. Unter Führung Baradeis und des ehemaligen Chefs der Arabischen Liga, Amr Moussa, hat die NRF begonnen, sich als Kristallisationspunkt jener Hälfte Ägyptens herauszubilden, die eine freiheitliche, tolerante Gesellschaftsordnung ersehnt.

Doch sie haben viel aufzuholen, um die Mobilisierungsfähigkeiten ihrer Gegner zu erreichen. Die Zeit ist kurz, denn schon Ende Februar sollen die Ägypter ein neues Parlament wählen. Mursis Image ist durch mehrfache Zeugnisse seiner Selbstherrlichkeit angekratzt. Durch eine besonnene Strategie bietet sich deshalb der Opposition eine Chance, genügend Vertrauen zu gewinnen, um eine starke Kraft im neuen Parlament zu bilden. Damit sie die umstrittensten Verfassungsartikel zumindest blockieren und den Präsidenten zu einem echten Konsens zwingen kann. Die Alternative wäre ein langer, blutiger Konflikt mit unabsehbaren Folgen für einen großen Teil der bitterarmen Bevölkerung.

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