Das verzankte Europa setzt auf die Vernunft in Nahost

Brüssel · Der Satz gehörte am Beginn der Flüchtlingskrise zum Standard-Repertoire jedes Politikers: Wir müssen die Ursachen der Flucht bekämpfen. Doch der politische Alltag der Außenminister offenbart an jedem Tag neu, wie schwer, vielleicht sogar derzeit unmöglich, dieses Ziel zu erreichen ist.

Denn das syrische Problem heißt nicht nur Al-Assad. Es heißt auch Türkei, Iran, Saudi-Arabien, Libyen. Zu viele Mächte und instabile Führungen kochen vor Ort ihr eigenes Süppchen. Die Zahl derer, denen etwas am humanitären Schicksal der Opfer liegt, ist gering.

Und der Ton in der EU wird immer schärfer. Die Außenminister der 28 EU-Mitgliedstaaten waren gestern zu ihrer Ratssitzung noch gar nicht richtig in Brüssel angekommen, da gab es schon die erste verbale Ohrfeige für Bundeskanzlerin Angela Merkel vom österreichischen Außenminister Sebastian Kurz: "Weder die Einladungs- noch die Willkommenspolitik ist die richtige Antwort auf die Flüchtlingskrise", sagte der 29-jährige Chefdiplomat. Und damit der Satz nicht ungehört verklingt, schob Kurz noch eine Drohung nach: Die Alpenrepublik habe im vergangenen Jahr rund 90 000 Asylbewerber aufgenommen. Wien behalte sich nach einer internen Konferenz mit den Vertretern der Regionen am 20. Januar eine Verschärfung der Grenzkontrollen vor, "sollte sich keine europäische Lösung abzeichnen". Scharfe Worte richtete der Wiener Diplomat auch an Griechenland, dem er vorhielt, sich nicht an gemeinsame Absprachen in Brüssel zu halten. "Einige Staaten scheinen ganz zufrieden zu sein, wenn sie die Menschen einfach Richtung Westen weiterziehen lassen."

Da sich die EU-Mitglieder weiter uneinig sind, wer nun künftig wie viele Flüchtlinge aufnehmen wird, setzen alle ihre Hoffnungen auf die Vernunft in der Region: auf die Verhandlungen über die Zukunft Syriens sowie Hilfen für die Nachbarn, um die Migration zu drosseln. Die EU erwägt nun ein wichtiges Signal Richtung Jordanien. Es geht um Geld, aber wohl auch um einen bevorzugten Zugang der jordanischen Firmen zum europäischen Markt. "Wir denken über indirekte Wirtschaftshilfe nach", bestätigte ein hoher EU-Diplomat. Doch das größte Problem besteht offenbar nach wie vor in der Gemengelage vor Ort. Eigentlich hatte man in Brüssel darauf gehofft, die Teheraner Führung nach dem Durchbruch bei den Atom-Verhandlungen stärker auf die Verhandlungslinie der Europäer zu bringen. Doch es gibt einen tief greifenden Konflikt zwischen Iran und Saudi-Arabien: Während die Mullahs als wichtigste Partner des syrischen Diktators Baschar al-Assad gelten, haben sich die Saudis auf die Seite der Rebellen geschlagen, die den Diktator auf jeden Fall stürzen wollen. Hinzu kommen Befürchtungen, dass Teheran nach dem Wegfall der Sanktionen viel frisches Geld in die Rüstung stecken könnte. Wie diese beiden Regionalmächte, die man für eine Lösung in Syrien und der Flüchtlingsfrage braucht, in eine Koalition eingebunden werden können, war auch gestern bei den Außenministern nicht erkennbar.

Die Menschen, die vor diesen Reibereien, den Kämpfen, dem alltäglichen Tod und den Terroristen des sogenannten Islamischen Staates ihr Leben zu retten versuchen, scheinen für die Machthaber der Region nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Doch an diesen führt bei der Lösung der Krise kein Weg vorbei.

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