Lexikon der Leidenschaft

Wie tückisch Wikipedia-Wissen sein kann, erfuhr Deutschland spätestens 2009, als ein gewisser Freiherr von und zu Guttenberg Wirtschaftsminister im ersten Kabinett von Angela Merkel wurde. Am Tag danach, es war der 10. Februar, druckte ausgerechnet die Zeitung mit den größten Buchstaben dessen falschen Vornamen Wilhelm daumengroß auf der Titelseite.

Ein Scherzbold hatte den Wilhelm auf Wikipedia platziert.

Viele, die das Online-Lexikon da noch nicht kannten, haben es inzwischen schätzen gelernt. Heute ist das Portal bei der Suche nach Informationen die erste Adresse. Und doch steht derzeit die Frage im virtuellen Raum: Hat Wikipedia die besten Zeiten hinter sich?

15 Jahre alt wird das Lexikon heute auf den Tag genau. Ein schwieriges Alter, nicht nur bei Menschen. Bei Wikipedia ist die Euphorie des Neubeginns verflogen, die Nutzerzahlen gehen zurück. Dazu kommt Kritik am Umgang mit Geld, da Wikipedia alljährlich um Spenden bittet, obschon die Organisation ein beträchtliches Vermögen angehäuft hat. Noch schwerer aber wiegt: Die Begeisterung, sein Wissen mit der Welt zu teilen, sinkt - und damit die Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu engagieren. Denn das ist das Prinzip von Wikipedia : Ein Heer von Freiwilligen schreibt, ergänzt, verbessert, aktualisiert, wehrt immer wieder auch Manipulationen ab. Das alles, ohne einen einzigen Euro dafür zu bekommen. Sklavenarbeit nennen das die schärfsten Kritiker.

Man kann das auch ganz anders sehen. Mit Wikipedia ist ein Menschheitstraum in Erfüllung gegangen, das Wissen tausender Experten rund um den Globus wurde sichtbar. Dabei war und ist Wikipedia immer ein Experiment, das mehr als alles andere vom Einsatz Einzelner lebt. Natürlich gibt es wie bei allem, was Menschen tun, Fehler, auch Böswilligkeiten. Letztlich rückt das aber in den Hintergrund im Vergleich zu dem, was Wikipedia in erster Linie ist: Ein überragendes Beispiel dafür, wie aus der Zusammenarbeit von leidenschaftlichen Menschen etwas Gutes, manchmal Großartiges entstehen kann.

Das Gemeinschaftslexikon ist damit auch ein Vorbild für ein gespaltenes Deutschland im Frühjahr 2016. Man stelle sich vor, all jene, die seit Wochen ihren Hass auf alles Fremde kübelweise in die Online-Welt kippen, würden diese Energie, dieses Herzblut für etwas Sinnvolles verwenden, von dem die Gemeinschaft profitiert. Ein schleichender Niedergang von Wikipedia wäre ein Spiegelbild unserer Gesellschaft: Wenn sich immer weniger interessieren und engagieren, wenn nur noch zugeschaut, gemotzt und gehetzt wird, wird es schwer. Dann bricht das System zusammen. Wir sollten mehr darauf achten, dass es nicht so weit kommt.

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