Grenzkontrollen bedrohen Europas Wirtschaft

Brüssel · Ohne eine Lösung der Flüchtlingskrise stehen den Europäern nicht nur gesellschaftspolitisch, sondern auch ökonomisch extrem schwierige Zeiten ins Haus. Darauf haben gestern mit ungewohnt eindringlichen Worten mehrere europäische Spitzenpolitiker hingewiesen.

Hintergrund ist, dass als Notmaßnahme immer häufiger intensive Grenzkontrollen oder gar Grenzschließungen ins Gespräch gebracht werden, was das Schengener Abkommen zur Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union zu Fall bringen könnte.

"Diejenigen, die eine Lösung der Flüchtlingskrise verweigern, spielen - und ich weiß nicht, ob sie sich darüber im Klaren sind - auch mit der ökonomischen Stabilität und Zukunft Europas", sagte Martin Schulz , der Präsident des Europäischen Parlaments, in einem Interview. Das Schengener Abkommen betreffe nämlich nicht nur die Freizügigkeit von Personen, sondern auch von Gütern und Waren. Als Beispiel nannte Schulz die vielen Transporte von den Häfen in Rotterdam und Antwerpen nach Deutschland, um eine Just-in-Time-Produktion zu ermöglichen. Würde es nur in diesem einen Bereich Einschränkungen geben, hätte das weitreichende Auswirkungen auf den Binnenmarkt.

Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hob vor Journalisten in Brüssel die möglichen wirtschaftlichen Konsequenzen hervor. In deftigen Worten. "Wer Schengen killt, wird im Endeffekt den Binnenmarkt zu Grabe getragen haben", sagte Juncker und warnte vor gravierenden Folgen. Dies könne zu einem Arbeitslosenproblem führen, "das nicht mehr beherrschbar" sein werde. "Wenn das alles zusammensackt", betonte er, werde der wirtschaftliche Preis und der Verlust an Wachstum "enorm sein".

Der Kommissionspräsident trug Schätzungen seiner Behörde vor, wonach alleine eine einstündige zusätzliche Wartezeit der Lastwagen an den derzeit geltenden Grenzkontrollen einen volkswirtschaftlichen Schaden von drei Milliarden Euro jährlich nach sich ziehen könnten. Die Kontrollen auf der Öresundbrücke zwischen Dänemark und Schweden hätten bereits jetzt Kosten von 300 Millionen Euro erreicht. Ohne die Freizügigkeit des Schengensystems mache überdies auch "der Euro keinen Sinn", mahnte Juncker.

Auch der Internationale Währungsfonds hat die Finanzminister der Eurozone bei ihrer Sitzung am Donnerstagabend einem Diplomaten zufolge auf die wirtschaftlichen Risiken bei einer Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen hingewiesen, "ohne diese zu quantifizieren".

Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU ) berichtete entsprechend im Anschluss von seinen diesbezüglichen Sorgen und deutete indirekt an, dass es auch in der Bundesregierung Überlegungen zu einer deutlichen Ausweitung der Grenzkontrollen wie in Skandinavien gibt. Sollte Deutschland als größte europäische Volkswirtschaft dem schwedischen Beispiel folgen, sagte Schäuble in Brüssel , dann wäre dies "eine gewaltige, eine enorme Gefährdung Europas". Für den erfahrenen Politiker steht Schengen derzeit "nahe" an einem Scheitern. Daher müsse schnell eine Lösung der Flüchtlingskrise gefunden werden. Neben der Sicherung der Außengrenzen sei auch eine intensivere Unterstützung von EU-Nachbarstaaten und Herkunftsländern und damit "sehr viel mehr Geld" nötig.

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