Auf der Suche nach sich selbst

Das war keine Sternstunde Europas. Der Bratislava-Gipfel, erstes Treffen ohne die zum Austritt entschlossenen Briten, blieb ein Wundenlecken. Ein Aufbruch war es nicht. Sicher, die Union gab sich einen brauchbaren und notwendigen Fahrplan. An dessen Ende wird im nächsten März eine feierliche Erklärung stehen, in der man sich zum Kampf gegen Terrorismus, für mehr innere und äußere Sicherheit, zur wirtschaftlichen Gesundung der Mitglieder und zur Schaffung neuer Jobs bekennen wird. Das ist alles wenig neu. Wer will, kann diese Versprechungen nachlesen - in der feierlichen Erklärung zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge vor neun Jahren. Geändert hat sich wenig, weder bei den Herausforderungen noch bei der Suche nach gemeinsamen Antworten. Das muss anders werden. Endlich.

Dabei haben die Optimisten unter den Staatschefs ja Recht: 90 Prozent der europäischen Zusammenarbeit funktionieren. Doch der Ausstieg der Briten und die seit Monaten schwelende Krise um die Aufnahme (oder Abweisung) von Flüchtlingen haben aus Freunden Gegner gemacht. Es mangelt der EU ganz offensichtlich am Verständnis für ihre unterschiedlichen Regionen. So verbünden sich Gleichgesinnte wie Deutschland, Frankreich und Italien, die Ostblock-Anrainer oder die südlichen Staaten der Union. Europa wird also nicht nur von nationalen Schauläufen gebremst, sondern auch von Mini-Gruppen, die ihre Interessen miteinander vertreten.

Das muss nicht zwangsläufig zum Nachteil der Union sein. Denn dann kann sich europäisch integrieren, wer will, ohne von jenen ausgebremst zu werden, die das nicht wollen. Es ist die Auferstehung des "Europas der zwei Geschwindigkeiten". Allerdings muss sich jeder darüber im Klaren sein, dass damit zugleich die Förderung nach dem Gießkannen-Prinzip endet. Denn finanzielle Solidarität kann nicht die einzige Ebene sein, auf der das Motto "Alle für einen, jeder für alle" noch funktioniert.

Die Bürger werden in den kommenden Monaten eine EU erleben, die um ihr Überleben kämpft. Sie muss als Union der 27 zusammenrücken, sich neu definieren. Und sie muss eine ordentliche Scheidung von den Briten schaffen, die weder den Binnenmarkt noch die anderen Säulen der Zusammenarbeit beschädigt. Zugleich reiben sich zwei der wichtigsten Persönlichkeiten, die die Gemeinschaft zusammengehalten haben, zu Hause im Wahlkampf auf: die deutsche Kanzlerin und Frankreichs Staatspräsident. Die Voraussetzungen für eine echte Renovierung Europas könnten kaum schwieriger sein - oder kaum besser. Denn wenigstens eines war allen Gipfelteilnehmern in Bratislava klar: So wie es derzeit läuft, kann es nicht weitergehen. Krisen plus Streit plus Lösungsarmut - das wird die EU nicht mehr lange überleben.

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