Auftritt mit „Wow“-Effekt

Jean-Claude Juncker ist ein Kunststück gelungen. Er hat sich aus dem Kreis derer gelöst, die seit Monaten über den möglichen Untergang der Europäischen Union reden und nicht begreifen, dass sie selbst die Lösungen für die beklagten Probleme liefern müssten. Wer, wenn nicht die Präsidenten von Kommission und Parlament, wer, wenn nicht jeder der Staats- und Regierungschefs könnte die Politik steuern, die Europa zuletzt Rückschläge, Stagnation und Verzagtheit einbrachte?

Juncker ist dazu die richtige Mischung für Herz und Kopf eingefallen. Weil er konkrete Projekte benennt. Denn die Bürger wollen keine Gemeinschaft, die ihnen Versprechungen macht, sondern eine, die Probleme löst. Das gilt für die Flüchtlingsfrage, die innere und äußere Sicherheit, aber auch für schnelles Internet, Auslandstelefonate oder den Datenschutz. Insofern war das, was da gestern im Europa-Parlament stattfand, schon ein "Wow"-Moment. Juncker ließ eine Ahnung davon entstehen, was Europa schaffen könnte, wenn nur endlich mal alle an einem Strang ziehen würden. Denn genau das ist und bleibt das Problem. Der Streit miteinander bremst Initiativen aus und füttert lediglich die Populisten - gleich von welcher Seite.

Dabei könnte die Union sehr wohl auf europäische Erfolge verweisen. Der Fall Apple zeigt beispielhaft, was die Gemeinschaft bewirken kann: Es war die Zurechtweisung eines Großkonzerns, der glaubt, sich den Regeln der Politik entziehen zu können. Ein einzelnes Mitglied der Union wäre kaum stark genug, um sich gegen solche Giganten zur Wehr zu setzen. Auch die 37 Anti-Dumping-Verfahren, mit denen Brüssel den Ausverkauf der europäischen Stahlindustrie verhindern will, ist ein großartiger Beleg für die Kraft derer, die gemeinsam ein Ziel verfolgen.

Doch all das ist nicht genug, um das Gefühl tiefer Verunsicherung zu vertreiben. Brexit, Terror, der nicht enden wollende Zustrom von Flüchtlingen, Jugendarbeitslosigkeit - Europas Bürger sind verschreckt von dem Eindruck, dass ihre geordnete europäische Welt zerbrechen könnte. Und die EU hat sich in diesen Fragen nicht als die Kraft präsentiert, die zu Antworten fähig ist. Das weiß auch Juncker.

Was der "Wow"-Auftritt des Kommissionspräsidenten wert war, wird sich schon morgen zeigen, wenn die Staats- und Regierungschefs in Bratislava zusammenkommen. Die Gefahr ist groß, dass sie erneut in unterschiedliche Lager zerfallen und sich gegenseitig Knüppel zwischen die Beine werfen. Wenn dieser Effekt eintritt, verpufft Junckers Appell. Die Kanzlerin scheint gewillt, das Treffen zu einem Signal für einen neuen Zusammenhalt der EU zu machen. Juncker hat dafür die Richtung gewiesen, indem er Kritik an der Selbstsucht der einzelnen Länder mit einer Vision für morgen zusammenführte.

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