Kettenwanderungen und die Logik kleinbürgerlicher Kreise

Saarbrücken · Als das jüngste Kursbuch Nr. 183 „Wohin flüchten?“ erschien, war die „Balkanroute“ noch nicht der große Dauerbrenner. Veraltet sind die Beiträge dennoch nicht. Einige davon helfen vielmehr, die Flüchtingsdiskussion zu versachlichen.

Wie schnell ein Buch veralten kann, ohne überflüssig zu werden, zeigt die jüngste Ausgabe des legendären "Kursbuchs". "Wohin flüchten?" fragt es. Natürlich lautet die Antwort Europa. Damals - vor drei Monaten, die in einer Zeit sich überstürzender Ereignisse manchmal wie zwei Jahre erscheinen können - standen die Bootsflüchtlinge aus Nordafrika im Fokus.

Der Journalist Alfred Hackensberger erinnert am Beispiel von Tanger an die seinerzeit neben dem Meerweg von Libyen nach Lampedusa (Italien) zweite, wichtige Fluchtroute durch die Straße von Gibraltar - ehe dann im September die neue "Balkanroute" alle anderen in den Hintergrund treten ließ. Über sie wollten im Frühjahr 2015 Tausende in Schlauchbooten das spanische Ufer erreichen. Und heute? Gibt es keine Bootsflüchtlinge mehr? Doch, inzwischen aber steht die Route durch die Ägäis im Fokus, auf der täglich 3000 Flüchtlinge auf Lesbos ankommen.

Inwieweit Europa seit Jahrhunderten Teil eines globalen Wanderungsgeschehens ist, resümiert der Migrationsforscher Jochen Oltmer. Er erinnert daran, dass mit der großen Gastarbeiterwelle zwischen Ende der 50er und 1973 rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland kamen, jedoch etwa elf Millionen (fast 80 Prozent!) später wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Das sollte all jene beruhigen, die sich nun bereits "überfremdet" fühlen: Auch jetzt wird nicht jeder Flüchtling dauerhaft bleiben. Andererseits scheint klar, dass viele nachfolgen werden, weil die Migrationsgeschichte "Kettenwanderungen" etabliert hat: Man folgt in aller Regel Verwandten und Bekannten als den einzigen Anlauf stationen in der Fremde. Josef Zetter, der bis zu seiner Emeritierung in Oxford lehrte, schreibt, die jährliche Einwanderungsquote in die EU (500 Millionen Einwohner) betrage im Schnittgerade mal ein Prozent. Das heutige Schleuserwesen, konstatiert er, resultiere aus der verschärften "Abschottungspolitik" der EU. Zetter kritisiert die extremen nationalen Unterschiede bei den Asylverfahren in Europa.

Der interessanteste Beitrag stammt von dem Münchner Soziologieprofessor Armin Nassehi und widmet sich dem Phänomen "Wirtschaftsflüchtlinge". Diese konterkarierten - insbesondere nach der ressentimentgeladenen Logik kleinbürgerlicher Kreise - ein altes proletarisches Arbeitsethos , demzufolge nur der zu essen bekommt, der auch arbeitet. Flüchtlinge hingegen seien ohne Gegenleistung per se anspruchsberechtigt. Das sei vielen in Deutschland suspekt, so Nassehi. Er hinterfragt die Klassifizierung von Asylsuchenden nach vermeintlich wirtschaftlichen, politischen oder religiösen Fluchtmotiven. In Wahrheit seien meist "multikausale Push- und Pullfaktoren für das Verlassen der alten Heimat" maßgeblich.

Weitere Beiträge beschreiben die geltende Abschiebepraxis, illustrieren an Fallbeispielen Asylverfahren , hinterfragen in Form eines Doppel-Interviews - mit Philip Ruch, spiritus rector des Berliner "Zentrums für politische Schönheit" und ZDF-Journalist Wolfgang Bauer, Autor des Buches "Über das Meer. Mit Syrern auf der Flucht" - Echtheit bzw. Falschheit von Betroffenheit und Mitgefühl heute. Kurzum: Auch dieses "Kursbuch" hebelt ein paar tradierte Denkmuster aus.

Kursbuch: Wohin flüchten? Murmann Verlag, 192 S., 19 €.

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