Der Herzensbrecher landet in der Psychiatrie

Saarbrücken. Als Tschaikowsky seine Oper 1878 komponierte, nahm er den gleichnamigen Versroman von Alexander Puschkin aus dem Jahr 1833 als Vorlage, dem er das Gerüst für eine allerdings etwas schwache Handlungsstruktur entnahm. Eine Herausforderung also für Regisseur Immo Karaman, der lyrisch bis leidenschaftlichen Musik entsprechende Charaktere der Protagonisten beizugeben

 Elena Guseva als Tatjana. Foto: Björn Hickmann/Stage picture

Elena Guseva als Tatjana. Foto: Björn Hickmann/Stage picture

Saarbrücken. Als Tschaikowsky seine Oper 1878 komponierte, nahm er den gleichnamigen Versroman von Alexander Puschkin aus dem Jahr 1833 als Vorlage, dem er das Gerüst für eine allerdings etwas schwache Handlungsstruktur entnahm. Eine Herausforderung also für Regisseur Immo Karaman, der lyrisch bis leidenschaftlichen Musik entsprechende Charaktere der Protagonisten beizugeben. Sein Bühnenbild, zusammen mit Aída-Leonor Guardia kreiert, ist ein finsteres Geviert mit hohen Gefängniswänden. Darin zu ebener Erde Öffnungen, die sich verschließen, beleuchten, dekorieren lassen. Ein Mehrzweckbau, der den unterschiedlichen Handlungsorten dienen muss, ob Garten, Ballsaal oder Schlafzimmer. Stühle sind fast das einzige Requisit; sie scheinen eingebunden in die Choreographie und dienen verschiedensten Zwecken. Darüber wogt ständig eine dräuende Nebelwolke, die jeden Augenblick herabzusinken droht, um die allfälligen Liebes- und Leidenschaftskatastrophen ins Nebulöse versinken zu lassen.Im ersten Akt dominiert die Tatjana von Elena Guseva, die introvertiert lieber liest, als sich den bescheidenen Freuden auf dem Landgut hinzugeben. Ihr angenehmer Sopran wird messerscharf, wenn sie forciert und Gefühlswallungen zeigt, denn sie verliebt sich spontan in den Besucher Onegin und lässt ihn das sofort schriftlich wissen. Ein pubertärer Fehler, denn der lehnt brüsk ab und stürzt sie damit in tief verletzende Seelenpein. Ihre Schwester Olga (kokett Judith Braun) mag es eher lustig und würde sich gerne ins fröhliche Treiben der Landleute nach der Ernte stürzen. Doch die kommen daher wie in einer Kolchose: Ausgebeutet, mit den Kräften am Ende, mühsam sich auf den Beinen haltend. Da wird ein krampfhaftes Tänzchen zur Parodie. Olga ist mit dem Nachbarn und Poeten Lenskij verbandelt, den die Regie zum Behinderten macht und in den Rollstuhl setzt. Algirdis Drevinskas setzt sitzend (!) seinen Tenor vorzüglich ein und ist mit seiner rasanten Fahrtechnik auch die einzige Figur, die Schwung ins Geschehen bringt. Ihm gehört der zweite Akt und er kann sich, meist an der Rampe, glänzend präsentieren.

Die Partie des Onegin singt Euung Kwang Lee, der mit seinem schönen Bariton gefühlvoll gestaltet, auch wenn die Skala von Gefühlskälte bis Leidenschaft nicht so ganz ausgereizt erscheint. Der Amme Filipjewna gibt Ortrun Wenkel, in den 70ern großartige Bayreuther Erda, servile Mütterlichkeit, die Larina, der Mutter der beiden Mädchen (aufgetakelt Sanja Anastasia), fehlt. Jirí Sulenko ist mit profundem Bass ein stattlicher Fürst Gremin; auch alle anderen kleineren Partien sind überzeugend besetzt.

Gagig von Fabian Posca kostümiert und choreographiert tragen Chor (klangstark und präzise) und Statisterie wesentlich zur Belebung der Szene bei, auch wenn Gliederzucken als Tanzersatz stilistisch mit der konventionellen Führung der Protagonisten nicht so recht harmoniert. Fast alles auf der Bühne läuft in einem gewissen Zeitlupentempo ab, oft im Gegensatz zur Musik und ihres Ausdrucks. Den hat Andreas Wolf am Pult gut im Griff. Zwar kann er nicht verhindern, dass das zweifellos schwierige erste Vorspiel etwas instabil aus dem Graben tönt und Tschaikowskys gemeine Steigerungs-Synkopen schon mal durcheinander geraten. Insgesamt jedoch läuft das Orchester von den poetischen Farben bis zur expressiven Leidenschaftlichkeit zu großer Form auf. Den Vorspielen gibt die Regie magisch-statische Bilder aus dem Seelenleben der Handlungsträger bei. Weihevoll schreiten Frauen Priesterinnen gleich über die Spielfläche. Ein Heer stillender Ammen blickt in leuchtende Babygesichter, Halbweltdamen zeigen schleierverhüllt Dessous und Figur. Ist's Mary Poppins mit einem Luftballon, die als Mädchen Tatjana im Ballsaal die reife, verheiratete Tatjana spiegelt? Bei Tschaikowsky stürzt der liebestoll rasende, abgewiesene Onegin verzweifelt nur hinter die Bühne. In Saarbrücken landet er in der eilig aufgebauten Psychiatrie. Die Lösung des 21. Jahrhunderts. Das Premierenpublikum spendet langen Applaus.

Termine: 9./16./19. (Theatertag)/28. Juni und 1. Juli. Karten: Tel. (06 81) 30 92 486.

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