"Wo früher Öde war, stehen heute Häuser"

Im Sommer 1990, wenige Monate vor Ihrem Amtsantritt, sind Sie das erste Mal nach Magdeburg gereist. Beschreiben Sie die Stadt, die Sie damals vorfanden.Schreiber: Wenn man von der Autobahn in die Stadt fuhr, sah man rechts und links riesige graue Wohnblöcke ohne Balkone, die wie Streichholzschachteln nebeneinander standen

 Blick auf eine Häuserzeile in Magdeburg-Buckau, aufgenommen im Jahr 2005. Foto: dpa

Blick auf eine Häuserzeile in Magdeburg-Buckau, aufgenommen im Jahr 2005. Foto: dpa

Im Sommer 1990, wenige Monate vor Ihrem Amtsantritt, sind Sie das erste Mal nach Magdeburg gereist. Beschreiben Sie die Stadt, die Sie damals vorfanden.

Schreiber: Wenn man von der Autobahn in die Stadt fuhr, sah man rechts und links riesige graue Wohnblöcke ohne Balkone, die wie Streichholzschachteln nebeneinander standen. Natürlich wusste man, dass es in der DDR Plattenbauten gab. Aber als ich das sah, dachte ich: "Meine Güte, die Menschen leben hier wie Bienen in Waben." Wie heruntergekommen die Stadt wirklich war, merkte ich, als ich im November zu meinem Amtsantritt anreiste: Es war düster, Braunkohle-Geruch lag in der Luft. Die Stadt schien nicht mehr zu leben.

Ihre Vorfreude auf den Job hielt sich vermutlich in Grenzen.

Schreiber: Wir haben die Ärmel hochgekrempelt und versucht, das Schiff zu steuern. Zu tun gab es ja genug. Dass es unsere Aufgabe ist, das "System West" auf den Osten zu übertragen, wussten wir. Aber was das konkret bedeutete, davon hatten wir keine Ahnung. Die Mitglieder unserer Landtagsfraktion kannten sich gegenseitig kaum. Gewachsene Partei-Karrieren wie im Westen gab es natürlich nicht. Und an Bord waren auch einige "Abenteurer" aus dem Westen, die dachten, sie könnten schnell im Osten groß rauskommen. Das war schon alles sehr chaotisch. Bei den einheimischen Partei-Kollegen galt es darauf zu achten, dass sie politisch unbelastet waren. Der heutige Ministerpräsident Böhmer fiel mir sofort positiv auf. Er war Chefarzt an einem evangelischen Krankenhaus, einem der wenigen nicht-staatlichen Häuser. Wir haben uns schnell verstanden. Er wurde ja in unserem Kabinett Finanzminister.

Was waren die größten Herausforderungen?

Schreiber: Die am Boden liegende soziale Infrastruktur wieder in Gang zu bringen. Das war ein Kraftakt, rechtzeitig die richtigen Weichen zu stellen. Wichtig war auch, offen auf die Menschen zuzugehen, ihnen zu vermitteln, dass man nicht einer von denen ist, die plötzlich hier herumschwirren, um Karriere zu machen, sondern einer von ihnen ist, etwas mit ihnen zusammen bewegen will.

Der Erwartungsdruck, unter dem Sie und die erste Landesregierung standen, war enorm.

Schreiber: Es gab eine Menge Menschen in den neuen Ländern, die der Auffassung waren, nach der Vereinigung komme der Wohlstand von alleine. Schon nach wenigen Monaten wurden die ersten enttäuschten Stimmen laut. Ich kann es ihnen nicht verdenken, aber wir arbeiteten bis spät in die Nacht. Es gab keine Telefone, uns stand nur ein Minimum an Personal zur Verfügung. Wenn das alles jetzt noch mal vor meinem geistigen Auge abläuft, frage ich mich manchmal, wie wir das alles geschafft haben. Aber irgendwie ging es.

Sachsen-Anhalt wurde schon bald in mancher Hinsicht Vorreiter, etwa bei den Kindertagesstätten.

Schreiber: Ja, das war unser Ehrgeiz. Wir waren das erste Land, das ein Kindertagesstättengesetz auf den Weg brachte. Die hatten in der Bevölkerung eine ganz hohe Priorität. In den Umfragen zum Teil noch vor dem Thema Arbeit.

Wenn Sie sich heute, 20 Jahre später, Magdeburg anschauen: Was ist geblieben, was hat sich verändert?

Schreiber: Die Straßen sind repariert, neue sind dazu gekommen, Häuser wurden restauriert. Wo früher Öde war, stehen heute neue Wohnhäuser und Einkaufszentren. Die Infrastruktur hat eine gewisse Perfektion erreicht. Es hat sich auch Wohnraum um die Stadt herum entwickelt, die ländlichen Gebiete sind besiedelt.

Klingt geradezu perfekt.

Schreiber: Eigentlich alle Menschen, mit denen ich spreche, wollen die alten Zustände nicht mehr. Natürlich sind nicht alle Träume in Erfüllung gegangen, aber manchmal habe ich den Eindruck, wir müssen noch deutlicher machen, dass es auch in den alten Ländern Probleme gibt. Es gibt keinen Staat, in dem alle gleich versorgt sind. Da spielt auch ein von mir lange unterschätztes Mentalitätsproblem eine Rolle: 40 Jahre lang hat der Staat in der DDR alles geregelt. Logisch, dass es da - vor allem bei den Menschen, die heute um die 60 Jahre alt sind - die Enttäuschung gibt, dass die Politik nach der Vereinigung nicht alles von heute auf morgen zum Positiven wenden konnte. Meine Hoffnung gilt der heranwachsenden Generation.

Wie geht es weiter mit Magdeburg?

Schreiber: In Magdeburg ist die industrielle Basis weggebrochen. Hier müssen - vor allem im Mittelstand - dringend wieder Arbeitsplätze entstehen. Tourismus und Dienstleistungen reichen nicht aus. Das Problem der Abwanderung ist nur zu lösen, wenn die jungen Leute nicht nur eine gute Ausbildung bekommen, sondern auch eine Perspektive auf dem regionalen Arbeitsmarkt.

Zur Person

Werner Schreiber, geboren 1941 in Saarbrücken, war von 1975 bis 1983 CDU-Abgeordneter im saarländischen Landtag, zwischen 1983 und 1990 Abgeordneter des Bundestages und von November 1990 bis Dezember 1993 Arbeits- und Sozialminister in der CDU-FDP-Koalition des Landes Sachsen-Anhalt. Heute lebt Schreiber wieder in Saarbrücken. jkl

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