Musik rettete ihr das Leben

Saarbrücken/Hamburg. Als die rechtsextreme Partei NPD einmal einen Stand vor ihrer Boutique in Hamburg aufbaute, entschloss sich Esther Bejarano, ihr Schweigen zu brechen. "Das waren die gleichen Parolen, die die Nazis in den 1930ern gegen uns Juden propagierten", sagt sie

 Die Vergangenheit darf nicht vergessen werden - dafür setzt sich Esther Bejarano auch mit 88 Jahren noch ein. Fotos: Privat

Die Vergangenheit darf nicht vergessen werden - dafür setzt sich Esther Bejarano auch mit 88 Jahren noch ein. Fotos: Privat

Saarbrücken/Hamburg. Als die rechtsextreme Partei NPD einmal einen Stand vor ihrer Boutique in Hamburg aufbaute, entschloss sich Esther Bejarano, ihr Schweigen zu brechen. "Das waren die gleichen Parolen, die die Nazis in den 1930ern gegen uns Juden propagierten", sagt sie. 30 Jahre konnte die heute 88-Jährige über die Grausamkeit, die sie in den Konzentrationslagern Auschwitz und Ravensbrück erleben musste, nicht sprechen. Schmerzhaft ist für Esther Bejarano das Erzählen auch heute noch: "Aber es muss sein, denn es darf nicht vergessen werden."In Saarlouis war ihr Vater Kantor der jüdischen Gemeinde und leitete den Synagogenchor. In der Garnisonsstadt wurde sie am 15. Dezember 1924 als Esther Loewy geboren. Zwei Jahre später zog die sechsköpfige Familie nach Saarbrücken in die Bismarckstraße Nr. 1. "Ich hatte eine schöne, unbeschwerte Kindheit, daran denke ich noch sehr oft", sagt Bejarano heute.

Die unbeschwerte Zeit endete 1935 mit den Rassegesetzen der Nationalsozialisten. "Die Leute wandten sich von uns ab, das war ganz schlimm, man hat uns gemieden, auch unsere Freunde." Nur ganz wenige ließen sich nicht beirren. "Lass uns bloß ins Ausland gehen", habe ihre Mutter schon damals gedrängt. Doch der Vater, ein Patriot, der für Deutschland im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, habe nicht geglaubt, dass sich Hitler so lange an der Macht halten würde. Am 9. November 1938 - die Familie lebte seit zwei Jahren in Ulm - wurde der Vater verhaftet. Nach seiner Entlassung - vermutlich weil seine Mutter Christin war - schaffte es eine Schwester nach Palästina, ihr Bruder in die USA. "Er wollte meine Eltern, meine Schwester Ruth und mich nachholen und musste dafür Geld zurücklegen", erzählt Bejarano. Doch dann wurde die Summe verdoppelt, die er nicht stemmen konnte. "Das hat letztlich meine Eltern und meine Schwester das Leben gekostet."

Im April 1943 wird Esther Bejarano nach Auschwitz deportiert. "Schon die Fahrt in Viehwaggons war eine Katastrophe. Wir wussten auch nicht, wo es hingeht. Die vielen Leute, kein Essen, kein Trinken, keine Toilette und diese schreckliche Luft. Viele Ältere sind schon während des Transports gestorben." Vier Wochen lang musste sie im KZ Felsbrocken schleppen: "Von der einen Seite des Ackers auf die andere. Am nächsten Tag mussten die gleichen Brocken zurück. Es war völlig sinnlos und ich völlig fertig." Vernichtung durch Arbeit.

"Die Musik hat mein Leben gerettet", sagt sie heute. In ihrem Block wurde eine Akkordeonspielerin für ein Mädchenorchester gesucht. Ein Instrument, das sie noch nie gespielt hatte. "Die rechte Hand war kein Problem, da ich Klavier kann, aber links die Knöpfe, da hatte ich keine Ahnung." Ihr gutes Gehör und eine große Portion Glück werden es gewesen sein, die sie den Schlager "Du hast kein Glück bei den Frauen, Belami" passabel spielen ließen. Das Mädchenorchester in Auschwitz-Birkenau musste am Tor stehen und spielen - morgens, wenn die Arbeitskolonnen ausmarschierten, und abends, wenn sie ins Lager zurückkamen. "Später mussten wir spielen, wenn neue Transporte ankamen, die direkt in die Gaskammern gefahren wurden. Die Leute winkten uns zu und dachten wahrscheinlich: Wo Musik gespielt wird, kann es nicht so schlimm sein." An ein Aufhören war nicht zu denken, die SS-Leute mit ihren Gewehren standen direkt hinter ihnen.

Wie sie überleben konnte, fragt sich Esther Bejarano heute noch. "Freundinnen von mir hielten es nicht mehr aus und gingen gegen den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun, um zu sterben. Wir mussten die Toten dann bergen." Als sie an Typhus erkrankte, sorgte der Arbeitsführer - "eine Bestie" - dafür, dass sie ins christliche Lazarett kam, das jüdische hätte ihren Tod bedeutet. "Er wollte, dass ich wieder Akkordeon spiele, und sagte der tschechischen Ärztin: Wenn diese Frau stirbt, erschieße ich Sie!"

Da Nazi-Deutschland Arbeitskräfte für die Kriegsproduktion benötigte, kam Bejarano, als "Viertel-Arierin" nach sieben Monaten in der "Hölle" ins KZ Ravensbrück, wo sie für Siemens Zwangsarbeit leistete. Kurz vor Kriegsende schickte die SS alle Insassen auf den Todesmarsch - wer umfiel, wurde erschossen. Mit sechs Freundinnen gelang ihr die Flucht. Nacheinander setzten sie sich in den Wald ab und wurden von US-Soldaten gefunden.

Nach dem Krieg wanderte sie nach Palästina aus, machte eine Ausbildung zur Sängerin, sang in einem berühmten Chor in Israel, lernte ihren Mann kennen und bekam zwei Kinder. 1960 zog die Familie nach Deutschland. "Mein Mann war Pazifist und hätte in Israel zum Kriegsdienst gemusst und ich selbst habe das Klima dort nicht vertragen." Anfangs war das Misstrauen gegen deutsche Männer groß. "Ich habe mich gefragt, was er damals gemacht hat, ob er der Mörder meiner Eltern sein könnte."

Auch mit 88 Jahren ist ihr Kalender prall gefüllt. Am Sonntag spricht sie bei der Gedenkveranstaltung des Landtags für die NS-Opfer auf der Gedenkstätte "Gestapo-Lager Neue Bremm" im Hotel Mercure Saarbrücken Süd. Um die Jugend zu erreichen, rappt sie in der Hip-Hop-Band "Microphone Mafia". Es strengt sie an, doch ihr Wille ist ungebrochen: "Es darf nicht noch einmal geschehen."

Hintergrund

 Die 14-jährige Esther Loewy lebte 1938 mit ihrer Familie in Ulm.

Die 14-jährige Esther Loewy lebte 1938 mit ihrer Familie in Ulm.

Am 27. Januar wird bundesweit der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Der Gedenktag wurde 1996 auf Anregung des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog eingeführt. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das KZ Auschwitz-Birkenau. red

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