Auch Differenzen sind ein Motor

Ist der Elysée-Vertrag wirklich im kollektiven Gedächtnis von Franzosen und Deutschen verankert oder handelt es sich beim jetzigen Jubiläum um Feierlichkeiten einer kleinen politischen Kaste?Baumann: Man kann den Eindruck gewinnen, dass der Vertrag im kollektiven Gedächtnis der Deutschen stärker verwurzelt ist als in dem der Franzosen

Ist der Elysée-Vertrag wirklich im kollektiven Gedächtnis von Franzosen und Deutschen verankert oder handelt es sich beim jetzigen Jubiläum um Feierlichkeiten einer kleinen politischen Kaste?

Baumann: Man kann den Eindruck gewinnen, dass der Vertrag im kollektiven Gedächtnis der Deutschen stärker verwurzelt ist als in dem der Franzosen. Allerdings finden in diesem Jahr auf deutscher wie auf französischer Seite hunderte von großen und kleinen Festveranstaltungen statt. Es feiern also nicht nur die Politiker, sondern auch zivilgesellschaftliche Gruppen. Wenngleich die Veranstaltungsteilnehmer leider häufig einen etwas höheren Altersdurchschnitt haben.

Welche Rolle hat der Vertrag tatsächlich für die politische und gesellschaftliche Annäherung gespielt? Ist er nur ein Symbol?

Baumann: Der Elysée-Vertrag ist heute vor allem ein deutsch-französischer Erinnerungsort. Das heißt, er steht sinnbildlich für die deutsch-französische Aussöhnung. Seine Unterzeichnung war das Resultat des vorangegangenen Aussöhnungsprozesses. Ab Dezember 1962 versuchte Kanzler Adenauer, die Weichen dafür zu stellen, dass die intensive deutsch-französische Zusammenarbeit auch unter seinem Nachfolger fortbestehen würde. Deswegen machte er kurzfristig aus einem geplanten eher formlosen Abkommen einen die künftigen Regierungen bindenden völkerrechtlichen Vertrag - den Elysée-Vertrag.

Es wird kritisiert, dass auf beiden Seiten immer weniger Menschen die Sprache des anderen lernten. Ist diese Kritik berechtigt?

Baumann: Leider ja! Inzwischen ist sogar in beiden Ländern der Spanisch-Unterricht verbreiteter - das Saarland bildet hier aus deutscher Sicht eine erfreuliche Ausnahme! Das gibt durchaus Anlass zur Sorge, da Kommunikation die Basis für zwischenmenschliche Kontakte darstellt und eine "Sprachlosigkeit" somit auch die Qualität der Kontakte beeinflussen dürfte.

Kann man angesichts der Tatsache, dass Deutschland und Frankreich im Hinblick auf die Konzepte zur Euro-Rettung unterschiedliche Vorstellungen verfolgen, überhaupt noch von einem deutsch-französischen Motor der europäischen Einigung sprechen?

Baumann: Ich denke schon. Für den Fortschritt der europäischen Integration war es in der Vergangenheit sogar häufig von Vorteil, wenn Deutsche und Franzosen unterschiedliche Interessen formuliert und sich dann auf einen Kompromiss geeinigt haben. Damit nahmen sie nämlich innereuropäische Diskussionen vorweg, so dass der Kompromiss zumeist auch von anderen europäischen Staaten mitgetragen wurde.

Das Frankreichzentrum der Saar-Universität, die Europäische Akademie Otzenhausen und die Asko-Europa-Stiftung veranstalten heute um 18.30 Uhr im Festsaal des Rathauses St. Johann in Saarbrücken ein Kolloquium zum Elysée-Vertrag. Mit dabei sind neben Ansbert Baumann die Historiker und Frankreich-Experten Etienne François und Rainer Hudemann.

Foto: Privat

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