Urnengang in Brexit-Zeiten Wahlkampf statt Weihnachtsstimmung in Großbritannien

London · Vor dem Urnengang am 12. Dezember will bei den abstimmungsmüden Briten keine Begeisterung aufkommen. Das könnte Premier Boris Johnson nützen.

  Boris Johnson könnte optimistisch in die Wahl gehen – wäre da nicht eine zurückliegende Affäre.

Boris Johnson könnte optimistisch in die Wahl gehen – wäre da nicht eine zurückliegende Affäre.

Foto: dpa/Frank Augstein

Die Vorweihnachtszeit ist angebrochen, aber besinnlich geht es im Vereinigten Königreich keineswegs zu. In den Straßen Londons sowie des restlichen Landes hängt zwar mittlerweile die festliche Beleuchtung, und so langsam dekorieren auch die Menschen ihre Häuser mit Weihnachtsschmuck. Nur, dieses Jahr müssen die Engel und Mistelzweige mit Wahlkampfpostern konkurrieren, die hinter den Fensterscheiben auftauchen.

„Ich wähle Labour“, steht da etwa auf rotem Hintergrund. Oder das Konterfei von Premierminister Boris Johnson prangt auf einem Plakat, darunter „Get Brexit done“, der Slogan des Konservativen, mit dem er die Brexit-frustrierten Briten überzeugen will, dass nur mit ihm in der Downing Street der EU-Austritt bis Ende Januar über die Ziellinie gebracht werden kann. Abends klopfen Kampagnenhelfer an die Türen der Menschen und werben dafür, am 12. Dezember für ihre jeweilige Partei zu stimmen. Die Tories fokussieren sich auf den Brexit. Labour klammert das Thema am liebsten aus, verspricht dafür bis 2030 kostenlosen Internetzugang für jeden Haushalt. Die Schottische Nationalpartei fordert noch vehementer Schottlands Unabhängigkeit. Und die proeuropäischen Liberal-Demokraten träumen im „Stop Bre­xit“-Höhenflug von einer liberal-demokratischen Premierministerin.

Es herrscht Wahlkampf. Aber Begeisterung will in der abstimmungsmüden Bevölkerung nicht aufkommen. Das spielt vor allem Johnson, dessen Botschaft an die Europaskeptiker auf der Insel ausgerichtet ist, in die Hände. Bislang lief es für den konservativen Regierungschef wie gewünscht. Wäre da nicht Jennifer Arcuri. Die US-Unternehmerin tourt seit einigen Tagen durch die Fernsehstudios und Zeitungsredaktionen auf der Insel, um ihre Sicht auf Boris Johnson zu schildern. Laut Medien soll sie eine Affäre mit dem damaligen Bürgermeister Londons gehabt haben. Vollends bestätigt hat sie das nicht. Aber, das wird allzu deutlich, sie fühlt sich tief verletzt. „Ich bin schrecklich untröstlich, weil du mich beiseite geworfen hast, als wäre ich ein kleines Monster“, wandte sich Arcuri in einem Interview direkt an Johnson. Könnte sie dem Konservativen gefährlich werden? Immerhin, es geht nicht nur um verletzte Gefühle. Die Geschäftsfrau steht im Zentrum eines mutmaßlichen Interessenskonflikts, der in die Zeit von Johnson als Londons Stadtoberhaupt zurückreicht. Er hat Arcuri mehrmals auf offizielle Reisen ins Ausland mitgenommen und soll ihr zehntausende Pfund aus öffentlichen Fördergeldern beschafft haben, obwohl die Internet-Unternehmerin nicht die erforderlichen Bedingungen erfüllte.

Derzeit sieht es nicht danach aus, als ob die Wähler sich von solchen Geschichten umstimmen lassen. Umfragen zufolge führen die Tories mit deutlichem Abstand. Sie stehen bei bis zu 42 Prozent, während Labour nur auf 26 bis 29 Prozent der Wählerzustimmung kommt. Die Liberal-Demokraten liegen bei rund 13 Prozent. Und Johnson reist vermehrt in Hochburgen anderer Parteien, um die Brexit-Anhänger einzufangen und zu mobilisieren.

Während die Gegner des EU-Austritts gehofft hatten, dass sich die Opposition zusammentut und in den entscheidenden Wahlkreisen, wo es knapp werden könnte, jeweils nur einen Anti-Brexit-Kandidaten aufstellt, machen Labour-Chef Jeremy Corbyn, der ein erneutes Referendum verspricht, und die liberal-demokratische Vorsitzende Jo Swinson bislang keine Anstalten, an einem Strang ziehen zu wollen. Deshalb zeigen mehrere Organisationen auf Webseiten auf, wie man in welchem Wahlkreis taktisch wählen muss, um den Brexit zu verhindern. Derweil hat sich der Vorsitzende der Brexit-Partei, Nigel Farage, entschieden, nun doch nicht in allen Wahlkreisen die Konservativen herauszufordern. Aber ob das Johnson hilft, um die gewünschte absolute Mehrheit zu erreichen, bleibt zweifelhaft. Denn Farage will weiterhin Kandidaten in umkämpften Wahlkreisen antreten lassen, etwa in jenen Gegenden, die als Labour-Hochburgen gelten, wo aber die meisten Menschen den Brexit unterstützen.

Boris Johnson präsentiert sich trotzdem siegesgewiss. Ist die Wahl bereits gelaufen? Vieles erinnert an das Jahr 2017, als die Konservativen zum selben Zeitpunkt, knapp vier Wochen vor dem Urnengang, scheinbar uneinholbar vorne lagen. Und am Ende so schwere Verluste erlitten, dass sie die absolute Mehrheit verloren und die damalige Premierministerin Theresa May lediglich durch die Duldung der nordirischen Unionistenpartei DUP eine knappe Regierungsmehrheit bilden konnte. Es folgte eine parlamentarische Hängepartie. Sie ist auch dieses Mal alles andere als unwahrscheinlich.

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