Kein Grund zur Beruhigung

Das Beunruhigende an den Flüchtlingszahlen des vorigen Jahres ist, dass sie so sehr beruhigen. 280 000, das ist abzüglich der Sonderentwicklung der ersten Monate ziemlich genau jener laue Grad an humanitärer Leistung, den selbst ein Horst Seehofer dem Land zuzumuten bereit ist. Rund 0,25 Prozent zu versorgende Menschen bezogen auf die Gesamtbevölkerung, das schaffen wir.

Die Zahl verdeckt die Umstände, mit denen sie erreicht wurde. Zu nennen sind zuallererst die Gestrandeten auf der Balkan-Route - die Letzten beißen die Hunde. Dass für diese sehr überschaubare Gruppe nicht nachträglich eine humanitäre Lösung gesucht wird, ist eine Schande für Europa und auch für die bis dahin vorbildliche deutsche Flüchtlingspolitik. Zu den unschönen Umständen gehört ebenso der komplette politische Zerfall des Kontinents in einer wichtigen Werte-Frage. Erkauft wurde die neue Zahl außerdem mit dem Türkei-Abkommen. Einem Pakt, der umso mehr zum Pakt mit dem Teufel wird, je mehr Präsident Erdogan zum Diktator mutiert.

Wirklich positiv ist nur, dass die Unfähigkeit und die partielle Blauäugigkeit der Behörden in Deutschland beendet wurden. Es gibt nun genug Personal, um die Verfahren schnell und effektiv abzuarbeiten. Man hat nachgeschärft, um Missbräuche besser aufzudecken und die Kontrolle über die Einreisenden zurückzugewinnen. Und die Zuständigen sind dabei, die Rückführung abgelehnter Bewerber besser zu organisieren; das schafft umgekehrt umso mehr Inte grationsmöglichkeiten für jene, die lange oder gar auf Dauer hier bleiben. Die Lernkurve verlief hier sehr steil, und das war auch nötig. Denn das Flüchtlingsthema wird dieses Land, wird diesen Kontinent nicht so bald loslassen.

Es gibt auf dieser Welt keine Insel der Seligen. Das Desaster Afrikas, wo schon Hunderttausende warten, die Scharmützel des Nahen Ostens, die Auseinandersetzungen in der Ukraine, Entwicklungen in der Türkei oder in Zentralasien - all das wird dafür sorgen, dass der Migrationsdruck auf Europa hoch bleibt und je nach Lage sogar noch wächst. Es ist eine Illusion zu glauben, man könne ihn mit Zäunen abwehren. Das ist nur das erste Netz, an dem lediglich diejenigen scheitern, die sich eine bessere Schleusung nicht leisten können. Wie Europa mit dem Problem dauerhaft und solidarisch umgeht, bleibt die wichtigste aller Fragen. Eine andere ist, was Europa tun kann, um den Herkunftsländern zu helfen. In beiden Punkten ist man nur minimal vorangekommen.

Es gibt in dieser Situation keine größeren Einfaltspinsel als die, die wegen einer momentan eingehaltenen "Obergrenze" denken, das Problem existiere nicht mehr. Das Jahr 2015 hat das Flüchtlingsthema mit Wucht auf die europäische Tagesordnung gesetzt, 2016 hat es nicht gelöst. Das ist die Bilanz.

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