Grüne balancieren auf dem falschen Fuß

Berlin · Wer sich gestern auf der Internetseite der Grünen unter dem Stichwort "Themen" informieren wollte, bekam nur Herzblut-Anliegen der Partei serviert: offene Gesellschaft, gutes Essen, Klima schützen, Gerechtigkeit. Die Parteiführung war da notgedrungen schon weiter. Bei ihrer Jahresauftakt-Klausur, die heute endet, wurde der Schwerpunkt "Mobilität der Zukunft" kurzfristig um einen Gastauftritt von Holger Münch ergänzt - der Chef des Bundeskriminalamts referierte zur inneren Sicherheit.

Mit dem Attentat in Berlin und der hitzigen Debatte über den Kölner Polizeieinsatz an Silvester wurden die Grünen zweifellos auf dem falschen Fuß erwischt. Statt mit der Urwahl zur grünen Spitzenkandidatur für Wohlfühl-Atmosphäre zu sorgen, muss sich die Partei zu einem Thema positionieren, das noch nie zum grünen Markenkern gehörte. Fast fühlt man sich an den Wahlkampf von 1990 erinnert. Damals sprach alle Welt von der Deutschen Einheit - nur die Grünen mochten auf ihren Wahlplakaten ironisch lieber "vom Wetter" reden und verbauten sich damit den Wiedereinzug in den Bundestag.

Ganz so schlimm dürfte es diesmal nicht kommen. Aber hart wird der Wahlkampf allemal, schwant auch Parteichef Cem Özdemir . Dabei stehen die Grünen in der Sicherheitsdebatte keineswegs am Nullpunkt. Seit Jahren fordern sie eine höhere Polizeipräsenz, grüne Konzepte zur Asylverschärfung liegen schon länger in der Schublade. Nur nahm die Öffentlichkeit kaum Notiz davon, die Grünen selbst hängen das auch nicht an die große Glocke. Lieber ist man Anwalt der Bürger- und Menschenrechte. Inzwischen besetzt die Partei in elf Bundesländern alle möglichen Regierungsposten - ein grüner Innenminister war nie darunter. Umso stärker schwappt die Empörungswelle, wenn sich etwa Co-Chefin Simone Peter von den Kölner Sicherheitskräften distanziert und damit grüne Klischees bedient. Oder wenn sich die Partei an so exotischen Forderungen festbeißt wie jetzt an kassenfinanzierter Sex-Dienstleistung für Pflegebedürftige. Nun ist es sicher richtig, die grüne Stammklientel bei Laune zu halten. Eine ausschließliche Konzentration darauf birgt allerdings die Gefahr politischer Bedeutungslosigkeit - siehe 1990.

Seit Jahren liegt die Partei in den Umfragen stabil zwischen zehn und zwölf Prozent. Neuerdings aber taxieren manche Demoskopen die Grünen nur noch bei neun Prozent. Das könnte ein Indiz dafür sein, dass sich Wechselwähler abwenden. Problematisch dabei ist, dass ein grünes Machtzentrum fehlt. Peter und Özdemir reden mehr aneinander vorbei als miteinander. Die eine schielt auf Rot-Rot-Grün, der andere auf Schwarz-Grün. Baden-Württembergs grüner Regierungschef Winfried Kretschmann spielt offenbar komplett auf eigene Rechnung, auch sein Intimfeind Jürgen Trittin lässt sich nicht in eine grüne Gesamtstrategie einbinden. Im "Spiegel" brachte sich Trittin jetzt als Minister einer künftigen Bundesregierung ins Spiel. Dabei war der Wahlkampf 2013 unter seiner Regie ziemlich in die Hose gegangen. Damals wollten die Grünen das Wahlvolk mit Steuererhöhungen beglücken. Auch so ein Thema, das Wechselwähler verschreckte. Am Ende landete man bei 8,4 Prozent. Ex-Parteichef Reinhard Bütikofer treibt nun die Sorge um, dass sich ein solches Szenario wiederholen könnte. "Ausgreifen oder irrelevant sein", das seien die grünen Alternativen für 2017, mahnte er kürzlich. Er könnte Recht behalten.

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