Leitartikel Offenheit ist in der Krise wichtiger denn je

Als die erste Impfung in der EU gesetzt wurde, war dies die große Stunde der Theatralik. „Das ist Europas Moment“, kommentierte beispielsweise EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Andere wählten ähnlich feierliche Worte.

Detlef Drewes

Detlef Drewes

Foto: Lorenz

Alle gemeinsam suggerierten der Öffentlichkeit, das die Mitgliedstaaten mit Impfstoff regelrecht überflutet und Lockdowns sowie Einschränkungen obsolet werden. Dabei war schon an diesem denkwürdigen 27. Dezember 2020 klar, dass dies bestenfalls ein Traum bleiben würde. Nicht weil die EU zu wenige Dosen bestellt hatte oder die Impfzentren noch gar nicht gebraucht wurden, da man zunächst in den Alten- und Pflegeheimen tätig werden wollte, sondern weil die Hersteller plötzlich einen Rückzieher machten. Denn sie konnte die vereinbarten Mengen nicht liefern.

Bei der Suche nach einem Sündenbock werden viele in Brüssel fündig. Sie liegen daneben. Nein, dort wurde nicht alles richtig gemacht. Aber für die derzeitigen Vakzin-Engpässe ist die Europäische Kommission tatsächlich nicht verantwortlich. Doch das kommt dabei heraus, wenn die Politik glaubt, dem Bürger zur Vorsicht keinen reinen Wein einschenken zu sollen. Denn man nährte Hoffnungen vom Ende der Pandemie. In Wirklichkeit war aber klar, dass es höchstens der Anfang vom Ende der Coronavirus-Krise sein konnte. Die Impfungen brauchen Zeit, nicht nur wegen der großen Zahl der Menschen, die verarztet werden müssen, sondern auch um schließlich zu wirken. Virologen haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass Lockerungen der Beschränkungen nicht vor dem Frühling realistisch sind. Es waren die unter großem Druck stehenden Politiker, die daraus eine vorgezogene Weihnachtsbotschaft gemacht haben. Es stimmt: Weder die EU noch die Regierungen noch die Mediziner hatten eine Blaupause für eine Impfkampagne dieses Ausmaßes. Aber trotzdem gab es Eckpunkte, die bekannt waren, die man aber lieber für sich behielt, um den Durchhalteparolen nicht die Überzeugungskraft zu nehmen. Dabei wird die Glaubwürdigkeit derer, die einschneidende Maßnahmen beschließen müssen, durch nichts so sehr beschädigt wie durch Intransparenz. Die Leidensfähigkeit der Menschen ist weitaus größer als viele Mandatsträger glauben – vorausgesetzt, sie werden ernstgenommen und an den politischen Entscheidungen beteiligt. Das ist auf vielen politischen Ebenen nicht geschehen. Brüssel gehört dazu, aber eben auch andere. Die Kommissionpräsidentin hat am Freitag einen zwar nicht neuen, aber doch unverzichtbaren Punkt angesprochen, der Europa beispielhaft erscheinen lässt. Keine andere Regierung in der Welt hat in ähnlicher Weise mehr Impfstoff bestellt als für das eigene Land benötigt wird. Die EU hatte von Anfang an beschlossen, sich nicht nur selbst zu versorgen, sondern zusätzliche Kontingente für jene Länder zu beschaffen, die dafür keine finanziellen Möglichkeiten haben. Das betrifft junge Balkan-Staaten ebenso wie Länder in Afrika, an deren Versorgung man unter anderem über die internationale Impfallianz beteiligt ist. Das sollte bei aller Unzufriedenheit und einiger durchaus berechtigter Kritik an dem Kurs der Gemeinschaft in Sachen Impfstoff nicht übersehen werden.

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