Leitartikel zum Abkommen über Brexit-Folgen Kein Chaos, aber eine harte Trennung von EU und Briten

Auf dem letzten Meter haben Brüssel und London das völlige Chaos zum endgültigen Brexit-Termin am Jahresende vermieden. Viel mehr aber auch nicht.

Meinung: Kein Brexit-Chaos, aber harte Breixt-Trennung von EU und Briten
Foto: SZ/Robby Lorenz

Es ist eine große Erleichterung, dass sich Brüssel und London auf den letzten Metern doch noch auf einen Handelsvertrag einigen konnten. Damit ist das Chaos, das ein ungeregeltes endgültiges Ausscheiden des Vereinigten Königreiches aus der Staatengemeinschaft zum Jahresende bedeutet hätte, vermieden worden. Der Hasardeur Boris Johnson hat es im Laufe der Verhandlungen bewusst mit in die Waagschale geworfen. Es spricht für die große Professionalität des Chefunterhändlers der EU, Michel Barnier, dass er sich dadurch nicht unter Druck setzen ließ. Als Erfolg der EU-Seite ist zudem zu verbuchen, dass es den Briten nicht gelungen ist, die EU der 27 auseinanderzudividieren.

Doch das 1246 Seiten umfassende Rechtsdokument ist eben auch ein Kompromiss. Es dokumentiert in erster Linie den ungeheuren Verlust, der auf die EU zukommt. Die Beziehungen, die Brüssel zur Schweiz und mit Norwegen unterhält, sind deutlich enger als die Bande, die künftig mit London verbinden. Jetzt kommt zwar kein harter Brexit. Doch das Auseinandergehen findet unter unerbittlichen Bedingungen statt. Eine Zukunft im besten gemeinsamen Einvernehmen sähe anders aus.

Der Verlust im wirtschaftlichen Bereich wiegt gerade für deutsche Unternehmen schwer. Der Handel mit dem Vereinigten Königreich wird mühsamer werden. Die Lieferketten werden leiden, weil in Calais und Dover Zollkontrollen fällig werden.

Brüssel hat sich nicht damit durchsetzen können, die Spielregeln im Handel zwischen EU und dem Vereinigten Königreich bestimmen zu können. Wenn künftig Streitigkeiten auftauchen – sei es, weil London High-Tech-Unternehmen über Steuerprivilegien anlockt oder die Arbeitnehmerrechte einschränkt – wird nicht der Europäische Gerichtshof die oberste Instanz zur Streitschlichtung sein, wie Brüssel durchsetzen wollte.

Der britische Premier kann nun behaupten, dass er seinen Landsleuten in vielen Politikbereichen die Souveränität zurückbringt. Ja, Großbritannien ist nun frei, Handelsverträge mit China, den USA und anderen abzuschließen. Doch der Rausch über die Eigenständigkeit wird vergehen. Den ersten Frust hat Johnson den jungen Menschen auf der Insel verpasst. Sie mussten erfahren, dass London aus Geldmangel aus dem Erasmus-Programm ausscheidet: Sie haben nicht mehr diese Chance, in Sevilla oder Maastricht für einige Monate Teil einer Wissenschaftsgemeinde zu sein, die sich gemeinsamen Werten verpflichtet fühlt.

Ob Johnson gegenüber seinen Wählern sein Versprechen von mehr Wohlstand einhalten kann, ist fraglich. Seine Fischer schäumen bereits jetzt vor Wut, weil die EU-Flotte auch ab Januar noch kräftig in den Hoheitsgewässern der Krone fangen darf. Auch bei Verhandlungen mit anderen Wirtschaftsnationen dürfte London noch die Erfahrung machen, dass es mangels Masse wenig durchsetzen kann. Letztlich wird sich dann zeigen, dass die Briten den denkbaren besten Deal mit der Europäischen Union aufgekündigt haben, als sie 2016 mit knapper Mehrheit für den Austritt votiert haben.

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