Leitartikel Impfstoff zwischen Neid und Misstrauen

Noch vor wenigen Monaten war offen, ob es je gelingen würde, einen Impfstoff gegen Covid-19 zu entwickeln. Man kann sich vorstellen, wie jetzt die Stimmung wäre, wäre es dabei geblieben. Nun gibt es das Vakzin, doch statt sich darüber zu freuen, wird in Deutschland aus allen Rohren geschimpft.

 Werner Kolhoff

Werner Kolhoff

Foto: SZ/Robby Lorenz

Am Dienstag titelte eine große Boulevard-Zeitung: „Unser Impfstoff geht um die Welt, und wir schauen zu“. Das sind Besitzanspruch und Neid in einem Satz. Nebenbei: Würden alle Leistungen von Menschen mit türkischen Wurzeln so schnell und so stolz als „unsere“ Leistung vereinnahmt wie die Entwicklung der Mainzer Biontech-Gründer Sahin und Türeci, wir wären gesellschaftlich deutlich weiter. In dem Satz steckt der Aufruf zum Pandemieschutz mit dem Ellenbogen. Die Stärksten und Reichsten zuerst. Diesem Reflex hat die Regierung widerstanden. Sie setzt auf eine gerechte internationale Verteilung und auf europäische Solidarität. Zu recht. Schon weil Biontech ein internationales Unternehmen ist und amerikanische und chinesische Partner brauchte, um das Serum so schnell entwickeln zu können. Es ist also kein „deutscher“ Impfstoff. Außerdem: Würde Deutschland ihn so behandeln, dann würden die anderen Länder mit ihren Entwicklungen ähnlich umgehen. Und die Lieferungen etwa von Moderna (USA) oder Astra-Zeneca (England) würden hier fehlen.

Gerechte Verteilung gilt auch für Deutschland selbst, wenn es kein wildes Hauen und Stechen geben soll. Teilweise hatte das ja schon begonnen, wie man an törichten Versuchen sehen konnte, Bundestagsabgeordnete vorzuziehen. Oder Ärzte und Polizisten. Die Regierung hat die Frage der Reihenfolge klugerweise einer Experten- und Ethikkommission überlassen, die klare Prioritäten gesetzt hat: Der Grad der Gesundheitsgefährdung entscheidet in erster Linie. Erst danach die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe.

Es gab für Berlin also gute Gründe, keine Notfallzulassung anzustreben wie in England oder den USA, sondern das reguläre europäische Verfahren abzuwarten. Zumal es ja auch noch Impfskeptiker gibt, gerade in Deutschland. Bei einer Notfallzulassung würde es schnell heißen, hier werde die Bevölkerung kollektiv zum Versuchskaninchen gemacht. Und die Impfbereitschaft würde sinken, ähnlich wie in Russland mit seinem abenteuerlichen Verfahren. Um 60 bis 70 Prozent Impfabdeckung zu erreichen, muss das Medikament sicher, wirksam und weitgehend nebenwirkungsfrei sein. Und zwar garantiert. Diesen Stempel muss nun die Europäische Zulassungsbehörde geben. Offenbar auch auf deutschen Druck hin will sie schon nächsten Montag entscheiden. Der ganze Streit ging nur um ein paar Tage. Wenn der Stoff in EU-Europa noch vor den Festtagen in die Adern der ersten Patienten fließen kann, ist es in diesem besonderen Jahr das schönste Weihnachtsgeschenk schlechthin. In den USA und Großbritannien wurde dieser Moment übrigens mit großem Jubel begleitet, fast wie die Mondlandung. Ähnliche Emotionen sind in Deutschland freilich nicht zu erwarten. Ein Impfstoff ist ja schließlich kein WM-Titel.

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