Flüchtlingskrise auf den Kanaren Madrid und Brüssel müssen ein neues Lesbos verhindern

Europa blickt mit Sorge auf die Kanarischen Inseln, die zum neuen Migranten-Brennpunkt des Kontinents geworden sind. Allein in den vergangenen zwei Monaten trafen dort mehr als 14 000 überwiegend junge Menschen in Booten ein, die in Nord- und Westafrika losfuhren.

 Ralph Schulze

Ralph Schulze

Foto: SZ/Robby Lorenz

Herrschen auf den Kanaren bald Zustände wie auf der griechischen Insel Lesbos?

Die meisten Ankommenden sind nach Einschätzung der Behörden Armutsflüchtlinge und keine politisch Verfolgten. Sie hoffen in Europa auf eine bessere Zukunft und ein Einkommen, um die zurückgebliebene Familie zu unterstützen. Aber warum steuern plötzlich so viele Kähne die kanarischen Ferieninseln im Atlantik an, auf denen in den letzten Jahren nur wenige Bootsmigranten registriert wurden? Zumal die Atlantikroute sehr viel gefährlicher ist als der Weg übers Mittelmeer, über den bisher die meisten Flüchtlinge ankamen? Das liegt schlicht daran, dass die Wassergrenze im Atlantik zwischen Westafrika und den 250 Kilometer entfernten Kanaren derzeit noch durchlässiger ist. Und dies macht sich die skrupellose Menschenmafia, welche die Migrationsströme Richtung Europa steuert, zunutze.

Die Seegrenze über den Mittelmeergraben wird mittlerweile ziemlich gut abgeschottet. Die EU-Kooperationsabkommen mit den wichtigsten Transitländern Türkei, Libyen und Marokko zeigen Wirkung. Deswegen kommen übers Mittelmeer immer weniger irreguläre Einwanderer. Das ist ein Erfolg der EU-Migrationsdiplomatie, die besser ist als ihr Ruf.

Im Rekordjahr 2015 waren in Südeuropa noch mehr als eine Million Flüchtlinge und Migranten gezählt worden. 2020 werden es in Spanien, Italien, Griechenland und Malta zusammen kaum mehr als 100 000 sein – also zehn Mal weniger. Diese zweifellos positive Tendenz wird sich auch nicht durch die Kanaren-Krise ändern. Das dortige Flüchtlingsdrama signalisiert indes, dass es wieder einmal eine Verschiebung der Migrationsrouten gibt.

Gleichwohl wächst die Unruhe auf den Kanaren. Spaniens Regierung will Tausende Migranten auf Gran Canaria, Teneriffa und Fuerteventura in Lagern festhalten. Zur Abschreckung. Und um in die in den nächsten Monaten geplanten Massenabschiebungen, die in Corona-Zeiten wegen der geschlossenen Grenzen vieler Herkunftsländer nicht möglich sind, zu erleichtern. Für viele Bootsmigranten könnten die Kanaren somit zur Endstation werden.

Eine brandgefährliche Strategie, die von Brüssel stillschweigend gedeckt wird. Aber ist es wirklich vernünftig, die kanarischen Ferieninseln in ein gigantisches Migrantengefängnis zu verwandeln? Die Inselpolitiker warnen nicht zu Unrecht vor einer sozialen Explosion, wie sie das griechische Lesbos erlebte. Dort ging im September das große Flüchtlingslager in Moria in Flammen auf. Damit es auf den Kanaren nicht so weit kommt, müssen Madrid und Brüssel deutliche Signale geben, dass sie die Inseln nicht mit dem Migrationsproblem alleine lassen. Und zwar schnell.

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