Willy Brandts Geste in Warschau Ein Kniefall als Zäsur in der deutschen Geschichte

Man kann die deutsche Vergangenheitsbewältigung einteilen in eine Zeit vor dem Kniefall von Warschau und eine Zeit danach. Davor, das war die Zeit des verschämten, teilweise verleugnenden Umgangs mit dem Holocaust.

 Werner Kolhoff

Werner Kolhoff

Foto: SZ/Lorenz, Robby

Der skandalös milden Behandlung von Nazi-Verbrechern durch die Justiz. Der „Deutschland, dreigeteilt niemals!“-Plakate der Vertriebenen-Organisationen. Des Kampfes gegen die Ostverträge als „Ausverkauf deutscher Interessen“ durch die Union. Des anhaltenden Feindbildes gegen Russen und Polen. Der Rechtfertigung von Todesurteilen gegen Deserteure und der Verherrlichung von Generalen der Wehrmacht. Um nur einige Punkte zu nennen.

Die Aktion des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt am 7. Dezember 1970 am Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos markierte eine Zäsur. Es gab zwar auch schon vorher Elemente der aufrichtigen Aufarbeitung. Doch nie so eindeutig vom Chef der Regierung selbst, nie so emotional, spontan und glaubhaft. „Ich tat, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“, gab der SPD-Politiker später als Motiv an. Er, der selbst im Widerstand gewesen war, der hatte emigrieren müssen, entschuldigte sich, wo andere es verweigerten, bekannte Schuld für Verbrechen, die andere verübt hatten. Und wurde dafür international gefeiert. Die Konservativen zu Hause diffamierten ihn hingegen als „Landesverräter Herbert Frahm“ – so lautete Brandts Geburtsname.

Aber ein Zurück hinter diese Geste gab es nicht mehr. Der Kniefall von Warschau steht symbolhaft für ein Deutschland, das Frieden mit allen Nachbarn sucht, dass sich der eigenen Vergangenheit stellt und dass daraus die Lehren für die Zukunft gezogen hat. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten waren das alles noch mehr von den Westalliierten importierte denn selbst gewählte Einstellungen. Auch bestärkt durch Willy Brandt sind sie seither zur Staatsräson geworden. So stabil, dass auch die neuen Rechten sie bisher nicht ernsthaft erschüttern konnten.

Welche Geste wäre Willy Brandt heute wichtig? Die Vermutung ist wahrscheinlich nicht falsch, dass es etwas mit den Flüchtlingen und ihrem Schicksal zu tun hätte. Vielleicht würde er nach Moria fahren. Und auch um das noch immer nicht intakte Verhältnis zu Polen würde er sich sorgen. Was kann Deutschland tun, um die Nachbarschaft zu verbessern, auch um den Hass der dortigen Nationalisten ins Leere laufen zu lassen? Sicher hätte der Bundestag sich unter Willy Brandt viel früher für ein Denkmal zur Erinnerung an die sechs Millionen polnischen Kriegsopfer ausgesprochen und nicht erst im November 2020. Schließlich hätte sich Willy Brandt wahrscheinlich vor die Synagoge von Halle gestellt. Denn der Antisemitismus lebt wieder auf, Nazi-Verherrlicher zeigen sich ungeniert auf den Straßen. Man sieht an diesen Beispielen: Seit dem Kniefall von Warschau hat sich zwar sehr viel zum Besseren verändert in Deutschland. Aber längst nicht alles. 

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