Leitartikel Die Europäische Union muss ihre Gegner stoppen

Ein Land mit dem demokratischen Reifegrad Polens oder Ungarns würde von der Europäischen Union sicherlich nicht aufgenommen. Zu eklatant sind die Defizite in wesentlichen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens.

 Kommentarkopf, Fotos: Juha Roininen

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Foto: SZ/Lorenz, Robby

Wer es aber bereits in diese Wertegemeinschaft geschafft hat, musste bisher Konsequenzen für Rückfälle nicht fürchten. Das war zumindest lange die latente Botschaft, die aus Brüssel kam. Am Dienstag legte die Behörde, deren ureigene Aufgabe das Wächteramt über die Einhaltung der Europäischen Verträge ist, einen Bericht vor, in dem ein rechtsstaatliches Manko an das nächste gereiht wurde. Und erstmals werden einem Mitgliedstaat finanzielle Sanktionen angedroht – ein beispielloser Fall, der überfällig war. Schließlich hat Brüssel bisher lieber die Füße stillgehalten anstatt einem der Demokratie-Sünder auf die Füße zu treten. Geschieht das jetzt? Im Wirrwarr der unterschiedlichen EU-Instrumente hat die Kommission zum schwächsten gegriffen. Denn die Geldbuße ergibt sich aus einem lange laufenden Vertragsverletzungsverfahren, hat also mit den verschärften Regeln im Ringen um die Rechtsstaatlichkeit (noch) nichts zu tun. Das macht die Sanktion zu einer schwachen Antwort. Denn die wirklich harten Strafen wie der Stimmrechtsentzug liegen weiter auf Eis. Und das neue Instrument, das zur Kürzung oder zum Einhalt von Subventionen führen würde, bleibt in der Schublade. Was braucht die Mannschaft um Ursula von der Leyen denn noch, um scharfe Konsequenzen zu ziehen?

Das Ausmaß des demokratischen Abbaus hat Dimensionen erreicht, die eine Werteunion nicht länger hinnehmen darf. Vor allem kann sie es sich um ihrer Glaubwürdigkeit willen nicht leisten, dem Vorwurf weiter Nahrung zu geben, dass die Gemeinschaft die korrupten Rechtsstaats-Gegner auch noch alimentiert – ja, sogar ihr Überleben sichert. Denn ohne die Gelder aus Brüssel wären weder die Regierung in Warschau noch die in Buda­pest überlebensfähig. Der für das neue Instrument mit dem sperrigen Namen Konditionalität erforderliche Missbrauch europäischer Steuergelder wird quasi amtlich von der EU-Kommission festgestellt, die sich dennoch weigert, gegen die Demokratie-Sünder vorzugehen. Welch ein Widersinn.

Diese Union hat den Brexit überstanden. Diese Krise in den eigenen Reihen birgt einen ebenso gefährlichen Zündstoff. Polen und Ungarn haben nicht nur den Minderheitenschutz oder der Presse- und Meinungsfreiheit de facto abgeschafft. Sie ignorieren längst auch Entscheidungen des höchsten europäischen Gerichts, weil eigene Gerichte, die zuvor mit regierungstreuen Juristen besetzt wurden, dies legitimieren. Das kommt einem offenen Bruch mit den Grundlagen dieser Gemeinschaft gleich. Ob die ultimative Drohung gegen Warschau die Situation retten, vielleicht sogar zum demokratisch Guten wenden kann, ist keineswegs sicher. Beide Seiten riskieren viel. Die Rufe nach einem Weg, um Widerständler aus der Union ausschließen zu können, werden lauter. Es wäre ein historischer Bruch, der Europas Gesicht für sehr lange Zeit tief verändern würde.

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