Corona-Lage in Deutschland bleibt fragil Der Weg zur Normalität wird ein langer werden

Mitte April vergangenen Jahres prägte Vizekanzler Olaf Scholz einen Begriff, der in dieser Pandemie zum geflügelten Wort wurde. Der heutige SPD-Kanzlerkandidat stimmte die Bürger auf eine „neue Normalität“ ein, auf die wir uns „für lange Zeit“ gewöhnen müssten.

 Kommentarkopf, Foto: imo photothek.de

Kommentarkopf, Foto: imo photothek.de

Foto: imo photothek.de

Ob das, was wir in den 15 Monaten seit dieser Äußerung erlebt und ertragen haben, das Attribut „normal“ verdient, ist mehr als fraglich. Jedenfalls könnte man nun im zweiten Corona-Sommer beinahe das Gefühl bekommen, dass wir zur alten Normalität zurückfinden: Man arbeitet vielerorts wieder im richtigen und nicht mehr im heimischen Büro, kommt ohne Test ins Restaurant, feiert Feste und findet geöffnete Clubs, geht auf Reisen und reibt sich verwundert die Augen beim Anblick halb oder ganz gefüllter Fußballstadien. Doch auch, wenn das Leben vielerorts vorpandemisch anmutet, sind wir weit weg von der alten Normalität.

Um uns herum explodieren die Infektionszahlen, so etwa in Spanien. Das beliebte Urlaubsland gilt ab Sonntag wieder als Corona-Risikogebiet, inklusive Mallorca und den Kanaren. Auch hierzulande stieg die Sieben-Tage-Inzidenz am Freitag den dritten Tag in Folge leicht an. Es ist freilich zu früh, um daraus schon eine Trendumkehr oder gar den Beginn der vierten Welle abzuleiten. Doch es zeigt, wie fragil die Lage ist, solange kaum mehr als 40 Prozent der Deutschen durch eine Impfung vollständig geschützt sind.

Doch „Fragilität“ ist kein Gefühl, das Politiker weniger als drei Monate vor der Bundestagswahl gerne vermitteln. Kaum einer spricht gerne über die Unwägbarkeit, wann die vierte Welle kommt und wie heftig sie ausfällt, oder über die Ungewissheit, ob wir ohne erneute härtere Einschränkungen durch den Herbst und Winter kommen. Ehrlicher wäre es, diese Themen offen anzusprechen und, wichtiger noch, tragfähige Konzepte für mögliche Negativ-Szenarien vorzubereiten – ganz besonders für die Schulen. Doch „Normalität“ ist die beliebtere Botschaft. Gerade die Regierungsparteien, die in exekutiver Verantwortung den Bürgern die harten Eingriffe von Freiheiten zumuten mussten, wollen nun auch mit wiedergewonnenen Freiheiten im Wahlkampf punkten können. Ganz nach dem Motto: Wir führen euch in die neue, aber auch zurück zur alten Normalität.

Die Regierenden in Bund und Ländern werden also alles daran setzen, die Grundrechte vor der Wahl nicht wieder einzuschränken. Das ist ein gewagtes Kalkül, denn dem Virus ist Wahltaktik herzlich egal. Je mehr Freiheiten, je mehr zwischenmenschliche Kontakte, desto mehr kann es sich verbreiten. Man kann daher nur hoffen, dass der Blick der politisch Verantwortlichen in den verbleibenden elf Wochen bis zum 26. September nicht zu sehr durch Wahlkampf-Scheuklappen verengt wird. Keiner will, dass sich die „neue Normalität“ noch länger hinzieht. Die verlässliche und vorsichtige Rückkehr zur alten ist der bessere Weg.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort