Und die Schulkinder bekamen „Kaiserweck“

Ein großer Teil der Erwerbstätigen des Kreises Merzig war Anfang des 20. Jahrhunderts gezwungen, Arbeit in den außerhalb des Kreisgebietes gelegenen Saargruben und Hüttenwerken zu suchen.

Zwar bildeten die klassischen Leitsektoren der industriellen Revolution, wozu vor allem der Kohlebergbau sowie die Eisen- und Stahlindustrie zu zählen waren, nicht mehr den Motor der Wachstumsdynamik. Trotzdem kam ihnen immer noch eine wichtige Funktion als Rückgrat der deutschen Wirtschaft zu. Mit einer durchschnittlichen jährlichen Steigerungsrate von 4,7 Prozent wies der deutsche Steinkohlebergbau ein beachtliches Wachstum auf. Ähnlich hohe Zuwachsraten hatte die Stahl- und Roheisenproduktion zu verzeichnen. Bereits vor der Jahrhundertwende produzierte das Deutsche Reich mehr Kohle und Stahl als Großbritannien und bis 1914 hatte es die britische Konkurrenz auch im Export überflügelt. Diese Entwicklung kam natürlich in hohem Maß der Saarwirtschaft zugute und damit den Menschen hier in unserer Region, die in Massen im Kohlebergbau sowie in der Eisen- und Stahlindustrie Beschäftigung fanden.

Jedoch waren die Bedingungen für die im Bergbau und auf den Hütten beschäftigten Arbeiter aus dem Kreisgebiet damals keineswegs einfach. Die meisten von ihnen mussten ihre Freizeit die Woche über nach einem harten, meist zwölfstündigen Arbeitstag in den Schlafhäusern an den verschiedenen Gruben- beziehungsweise Hüttenstandorten verbringen. Sie konnten in aller Regel erst am Samstag wieder in ihre Heimatorte zurückkehren. Da die Männer die Woche über nicht zu Hause waren, blieb es Frauen und Kinder vorbehalten, die notwendigen Arbeiten in der meist zusätzlich noch betriebenen Landwirtschaft zu verrichten.

Vor allem für die Berg- und Hüttenarbeiter aus den Hochwalddörfern brachte aus diesem Grund die Fertigstellung der Merzig-Büschfelder Eisenbahn im Jahre 1903 endlich eine bedeutsame Erleichterung. Bis zu diesem Zeitpunkt waren sie nämlich gezwungen, einen großen Teil des Weges zu ihren Arbeitsstätten zu Fuß zurückzulegen. Weil sie große Wegstrecken zurücklegen mussten, bezeichnete man sie auch als "Hartfüßler".

Zu Beginn des Jahrhunderts waren auch im Kreis Merzig grundlegende technische Neuerungen zu verzeichnen. In vielen Orten wurden Wasserleitungen gebaut, hielten Elektrizität und Fernsprechverkehr, wenn auch längst noch nicht flächendeckend, Einzug. Ende 1905 lernten schließlich auch in Merzig "die Bilder laufen". Im Februar 1906 stand beispielsweise eine Kinovorstellung in Merzig an.

Aus einem Bericht der Merziger Volkszeitung vom 6. Februar 1906 über die Vorführung geht hervor, dass das in dieser Vorstellung gezeigte Filmmaterial ganz dem damals herrschenden Zeitgeist entsprach. So hieß es dort: "Nur neue Bilder wurden uns gezeigt. Sie ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Von einem Flimmern, welches man bei lebenden Photographien so oft beobachtet, ist hier so gut wie nichts zu bemerken. Vor allem sind es verschiedene Szenen aus dem deutschen Militärleben, den Einzugsfeierlichkeiten des deutschen Kronprinzenpaares in Potsdam und den Kaisertagen in Koblenz, welche, auf die Leinwand gezaubert, unsere Blicke fesseln. Auch mit vielen humorvollen Nummern ist das reichhaltige Programm ausgestattet. Mit großem Interesse verfolgt man das Bild einer Automobilwettfahrt von Paris nach Monte Carlo. Beide Vorstellungen am Sonntag und auch die gestrige erfreuten sich eines guten Besuches. Heute Nachmittag findet eine Kindervorstellung zu ermäßigten Preisen, heute Abend Schlussvorstellung mit vollständig neuem Programm statt."

Auch am Beginn des Jahres 1914 war das Leben der Menschen in unserer Region verglichen mit heute doch relativ beschaulich. Von unmittelbar bevorstehender Kriegsgefahr redete zu diesem Zeitpunkt niemand. Die wirtschaftliche Blüte dauerte ebenso wie die Verehrung für den Kaiser und die Hohenzollerndynastie an. Die nachfolgende Notiz der Merziger Zeitung vom 1. Januar 1914 ist ein Beleg für den wirtschaftlichen Aufschwung in der Region. Gleichzeitig regt sie jedoch auch zum Schmunzeln an, zeigt sie doch, dass eine auch heute noch gelegentlich festzustellende Rivalität zwischen Losheim und Wadern bereits vor 100 Jahren gegeben war.

Aus Losheim wird dabei vermeldet: "Hier ist jetzt mit Genehmigung der königlichen Regierung jeden Donnerstag Wochenmarkt - zum ersten Mal am 8. Januar. Man ist darauf gespannt, wie sich diese Märkte gestalten werden. Es ist alle Aussicht vorhanden, dass dieselben das längst empfundene Bedürfnis stillen. Hat doch Losheim weit über 2.000 Einwohner, also noch mal so viel wie der Marktflecken Wadern. Allerdings hat Wadern einen städtischeren Charakter. Der schöne, große Marktplatz ist zur Abhaltung von Märkten wie geschaffen. Aber auch hier in Losheim ist dafür genügend Raum vorhanden."

Seit mehr als 40 Jahren herrschte zu diesem Zeitpunkt Frieden, eine Zeitspanne, wie es sie zuvor nur selten in der deutschen Geschichte gegeben hatte. Zwar hatte das nassforsche Auftreten des deutschen Kaisers des Öfteren zu Befremden im Ausland geführt, doch sah die Masse der Deutschen dies als Ausdruck deutscher Stärke an. Am deutschen Wesen sollte die Welt genesen.

Moderne Technik und Neuerungen hatten weiter Einzug in den Kreis Merzig gehalten. Die ersten Flugzeuge und Luftschiffe überflogen unsere Region und jedes Mal, wenn eine dieser Maschinen am Himmel auftauchte, war dies geradezu eine Sensation und den Zeitungen eine Meldung wert. Am 3. August 1912 hieß es in der Merziger Zeitung: "Endlich ein Zeppelin über Merzig und zwar bei Tage - Heute Morgen, kurz nach halb acht Uhr, wurden die Bewohner unserer Kreisstadt durch ein eigentümliches Surren in den Lüften aufmerksam gemacht. Von Westen her kam in majestätischem Flug das schon lang ersehnte Luftschiff. Voll Erstaunen stand die Menge und mit stets wachsender Bewunderung wurde die ruhige Fahrt beobachtet. Über der Stadt machte es eine schöne Schleife, die die Lenkbarkeit des stolzen Luftkreuzers in bestem Lichte zeigte. Nach Mitteilung aus zuverlässiger Quelle handelte es sich um das Luftschiff "Zeppelin III", das von Metz kommend die Richtung Trier zu nahm. Um 19.20 Uhr kehrte der stolze Luftsegler zurück, nicht ohne vorher über unserer Stadt abermals in schönster Weise zu manövrieren und fuhr in der Richtung Metz weiter. Endlich nach langem Hangen und Bangen hatten wir auch einmal Gelegenheit, die geniale Schöpfung des großen Friedrichshafener Luftgrafen, unseres Zeppelin, der sich ein ewiges Denkmal in der Weltgeschichte gesetzt hat, in nächster Nähe bewundern zu können. Just zur richtigen Zeit kam das schöne Fahrzeug über Merzig, nämlich zur Zeit der Listenzirkulierung für die Flugspende und es wird bei diesem majestätischen Anblick wohl manchem Skeptiker der letzte Rest der Zurückhaltung genommen worden sein. Darum, Ihr Bürger und Einwohner unseres schönen Kreises, greift kräftig hinein in die Tasche und steuert euer Scherflein zur Erfüllung der großen nationalen Aufgabe des Flugwesens bei, denn unsere Zukunft liegt in der Luft!"

Doch nicht nur der Zeppelin sorgte für Aufsehen hier im Kreis Merzig. Vielmehr war jedes Flugzeug, das über der Stadt oder der Region gesehen wurde, den Zeitungen damals eine Meldung wert. Die Merziger Volkszeitung notierte beispielsweise ein gutes Jahr später am 13. September 1913: "Ein Doppeldecker überflog heute morgen 1/2 neun Uhr in beträchtlicher Höhe den Ellerhof. Er hatte nördlichen Kurs. Um 10 Uhr kehrte der Flugapparat nach derselben Richtung, aus der er gekommen war, (über den Bietzer Berg) wieder zurück."

Damals kam wohl nur den Wenigsten der Gedanke in den Sinn, dass Flugzeuge oder Zeppeline ein Jahr später nicht nur zu militärischen Aufklärungszwecken eingesetzt werden würden, sondern auch Bomben abwerfend die Region in Angst und Schrecken versetzen sollten.

Im Februar 1914 war das Kreisgebiet nach der Fertigstellung einer Hochspannungsleitung von Saarlouis nach Merzig an das elektrische Stromnetz angeschlossen worden. In einem Bericht der Merziger Zeitung vom 15. Februar 1914 wurde unter der Überschrift "Kreiselektrizitätsversorgung" folgendes vermeldet: "Nach Wochen angestrengtester Arbeit, die noch ganz besonders durch den starken und anhaltenden Frost erschwert wurde, konnte die 25 000 Volt-Strecke Saarlouis-Merzig soweit vollendet werden, dass sie bereits vor acht Tagen probeweise in Betrieb genommen wurde. Nicht der geringste Fehler war wahrzunehmen und alles funktionierte so exakt, als würde es sich um einen Laboratoriumsversuch handeln und nicht um eine Hochspannungsfreileitung von ca. 22 Kilometer. Neben dem ausgezeichneten Material nur erster Firmen gebührt der Bau ausführenden Firma, der Eisenbahnbaugesellschaft Becker & Co., Berlin, vollste Anerkennung, diese wichtige Hauptstrecke ohne die geringste Störung dem Betrieb übergeben zu können. Mit fieberhafter Tätigkeit wird in den verschiedenen Ortsstationen gearbeitet, gilt es doch nunmehr in kurzer Reihenfolge die Ortschaften Hilbringen, Merzig-Land, Haustadt und Mettlach mit Strom zu versorgen und deren Bewohner möglichst bald die Vorteile und Annehmlichkeiten der Elektrizität für Licht- und Kraftzweck zukommen zu lassen, denn in Stadt und Land ist es schon lange bekannt, dass die Elektrizität die billigste und zuverlässigste Licht- und Kraftquelle der Menschheit ist."

Die Gemeinde Hilbringen konnte sich damit schmücken, als erster Ort des Kreises über elektrische Beleuchtung zu verfügen. "Es werde Licht und es ward Licht!", überschrieb die Merziger Zeitung am 18. März 1914 eine Meldung aus Hilbringen. "Seit voriger Woche genießt unser Ort, sowie auch Ballern und Rech, elektrisches Licht durch die Saarlouiser Zentrale. Wir sind die ersten im Kreis, die das sagen können, und sind sehr stolz darauf. Das Licht brennt hell und ruhig, und die Bequemlichkeit ist nicht mit Geld zu bezahlen."

Der Bau der Bahnstrecke von Merzig nach Waldwiese und weiter nach Lothringen hinein, mit dem im Juni 1909 begonnen worden war, hatte zwischenzeitlich große Fortschritte gemacht. Die Bahnstrecke, von der sich insbesondere die Merziger Kaufleute eine deutliche Vergrößerung ihres Kundenstammes versprachen, sollte nach den Planungen am 1. April 1915 fertiggestellt sein. Doch letztlich kam alles anders als gedacht.

Prägendes Element Militarismus

Politisch gesehen gehörte der Kreis Merzig, wie der größte Teil der Saarregion zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Regierungsbezirk Trier, der wiederum Teil der preußischen Rheinprovinz war. Der Kreis umfasste im Wesentlichen das heutige Kreisgebiet mit Ausnahme der Gemeinde Perl und von Teilen des auf der linken Saarseite gelegenen Gebietes der Gemeinde Mettlach. Die letztgenannten Gebiete bildeten damals den südlichen Teil des Kreises Saarburg. Die Einwohnerzahl des Kreises Merzig betrug im Jahr 1900 rund 44 800 Menschen.

Es hat den Anschein, als ob die damals zu über 97 Prozent katholische Bevölkerung ihren Frieden mit dem preußisch-wilhelminischen Staat gemacht hatte. Der Kulturkampf Bismarcks in den 1870er Jahren gegen die katholische Kirche, unter dem auch die Geistlichen im Kreis Merzig zu leiden hatten, schien vergessen zu sein. Das kulturelle und gesellschaftliche Leben unterschied sich wohl kaum von anderen preußischen Gebieten im wilhelminischen Kaiserreich.

Die Hohenzollerndynastie wurde von großen Teilen der Bevölkerung geradezu verherrlicht. Selbst in den kleinsten Dörfern des Kreisgebietes feierten die Menschen alljährlich am 27. Januar den Geburtstag des Kaisers. Die örtlichen Vereine veranstalteten Festessen und die Schulkinder erhielten ihren "Kaiserweck". Dem Kaiser wurde von breiten Bevölkerungsschichten, obwohl dies für Menschen der heutigen Zeit nur schwer nachvollziehbar und überhaupt nicht verständlich ist, große Verehrung und Vertrauen entgegengebracht.

Ein dem Geburtstag des Kaisers gewidmeter Artikel der Merziger Volkszeitung vom 27. Januar 1913 bringt dies deutlich zum Ausdruck, wenn es dort unter der Überschrift "Heil Kaiser Dir!" heißt: "Der Deutsche Kaiser begeht in persönlicher Gesundheit und Frische seinen 54. Geburtstag, einen Tag, der zum nationalen Einheitsfest geworden ist und, soweit die deutsche Zunge klingt, als patriotischer Festtag gefeiert wird. In einer Zeit, wo es nur mit Mühe gelang, Europa an dem Ausbruch eines allgemeinen Krieges vorbeizuführen, wird das deutsche Volk voll Dankes zu seinem Kaiser aufschauen, der mit den Männern, die er an die Spitze der Reichsregierung berufen hat, bisher aufs erfolgreichste bemüht gewesen ist, uns den Frieden zu sichern und darum nicht umsonst der Friedenskaiser genannt wird. Diese Friedenspolitik hat dem Ansehen des Reiches in keiner Weise geschadet; die alldeutschen Blätter, die bei jeder Gelegenheit dies behaupten und verlangen, dass das Schwert aus der Scheide gezogen werden soll, haben den Beweis für ihre Behauptung noch nicht erbringen können. Im Gegenteil man beachte nur die immer wieder im englischen Parlament gestellten Anfragen, die sich mit dem deutschen Heer, der deutschen Marine und Luftflotte befassen, dann wird man von einem verringerten Ansehen nichts spüren. Was die mehr als 40 Friedensjahre unserem Volk, der Industrie wie der Landwirtschaft, dem Handel wie dem Gewerbe, dem Handwerker- wie dem Arbeiterstand genützt haben, das ist unermesslich. Fortschritt auf jedem Gebiet, Hebung des Nationalvermögens, Verbesserung der sozialen Lage! Fasst man dies alles ins Auge, so kann man der Politik, der wir dies alles verdanken, die Anerkennung nicht versagen. Das Fundament dieser Politik aber ist die Einigkeit des deutschen Volkes in vaterländischen Fragen."

Ein fast alle Lebensbereiche durchdringender Militarismus, verknüpft mit der bereits erwähnten Glorifizierung der Hohenzollerndynastie, war ein wesentliches Element des wilhelminischen Zeitalters. Mit dem Begriff des "Militarismus des wilhelminischen Reiches" werden eine Reihe von Einstellungen und Verhaltensweisen bezeichnet, die die Gesellschaft des Kaiserreiches vor dem Ersten Weltkrieg charakterisiert haben. Dazu zählen das hohe Sozialprestige des Militärs, die Idealisierung kriegerisch-kämpferischer Tugenden, die Glorifizierung soldatischer Traditionen und die Übertragung einer Kriegsmentalität auf den zivilen Bereich, die hohe Akzeptanz von kompromissloser Machtausübung, die Bereitschaft, Gewalt bei der Durchsetzung nationaler politischer Ziele zu befürworten und nicht zuletzt auch die Hochrüstung unter Anspannung aller nationalen Kräfte sowie die Autonomiebestrebungen der Militärs.

Die Hochschätzung alles Militärischen und dessen gesellschaftlicher Vorrang war ein wesentliches Kennzeichen des wilhelminischen Kaiserreiches. Dementsprechend wurde auch in unserer Region bis tief in bürgerliche Kreise hinein das Militär als Garant der nationalen Einheit angesehen.

Die Uniform war gleichzeitig jedoch auch ein Symbol für die Distanz der traditionellen Militäreliten, sprich der Aristokratie, gegenüber der Zivilgesellschaft. Das Streben von Teilen des Bürgertums nach der Offiziersuniform war der alten Aristokratie überaus unbehaglich. Demzufolge bemühte diese sich, die gesellschaftliche Exklusivität des Offizierskorps aufrechtzuerhalten. > wird fortgesetzt.

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