Bürokratie macht vor Krankheit nicht halt

Otzenhausen. "Ich habe ein Sparschwein. Darin sammle ich Zwei-Euro-Stücke. Gespart habe ich auf einen Urlaub. Das war das, was ich gern noch machen wollte. Zwischenzeitlich musste ich das Sparschwein schlachten, um Medikamente zu kaufen." Andrea Borkenhagen aus Otzenhausen ist 49 Jahre alt und unheilbar an Krebs erkrankt. Anderthalb Jahre litt sie bis zur endgültigen Diagnose

 Der Weg zum richtigen Medikament kann im Krankheitsfall beschwerlich sein. Foto: Emily Wabitsch dpa

Der Weg zum richtigen Medikament kann im Krankheitsfall beschwerlich sein. Foto: Emily Wabitsch dpa

Otzenhausen. "Ich habe ein Sparschwein. Darin sammle ich Zwei-Euro-Stücke. Gespart habe ich auf einen Urlaub. Das war das, was ich gern noch machen wollte. Zwischenzeitlich musste ich das Sparschwein schlachten, um Medikamente zu kaufen." Andrea Borkenhagen aus Otzenhausen ist 49 Jahre alt und unheilbar an Krebs erkrankt. Anderthalb Jahre litt sie bis zur endgültigen Diagnose. Seitdem kommen zu ihrem physischen Leid jede Menge Stress und Ärger hinzu: mit Krankenkassen, mit Behörden und mit Ärzten.Die Diagnose: Acht Unterleibs- und eine Bandscheiben-Operation hat Andrea Borkenhagen bereits hinter sich, als sie im Mai 2010 zum ersten Mal Blut im Urin bemerkt. Bauchschmerzen kommen dazu. Mehrfach wird sie auf Blasenentzündungen behandelt, ohne dass sich die Beschwerden bessern. Im Oktober 2010 werden ihr Teile der Gebärmutter entfernt. Doch das Leiden geht noch ein Jahr weiter. Im November 2011 ist sie für weitere Untersuchungen in einer Klinik in Kaiserslautern. "Dort wollte man mich nach zwei Wochen ohne Diagnose wieder entlassen", erzählt die heute 49-Jährige. Ein Arzt habe gemeint, es gebe Patienten, bei denen die Beschwerden psychisch bedingt sind. "Aber ich habe auf einer Untersuchung beim Urologen bestanden. Ein Röntgenbild und eine Blasenspiegelung brachten dann die endgültige Diagnose: ein großer Tumor in der Blase." Außerdem wird klar: Die Krebsform ist aggressiv und nicht heilbar.

Die Behandlung: Einen Tag später wird der Tumor in einer Operation entfernt. Ende Februar 2012 folgt eine weitere OP. Entfernt werden diesmal die Blase, Muttermund, Eierstöcke, mehrere Lymphknoten und ein Stück Darm. Aus dem Darmteil formen die Ärzte eine neue Blase. Diese funktioniert aber nur eingeschränkt. "Ich muss mir beispielsweise nachts alle zweieinhalb Stunden den Wecker stellen, um zur Toilette zu gehen", berichtet die Otzenhausenerin.

Nach einer anschließenden Heilbehandlung beginnt Andrea Borkenhagen eine Chemotherapie, bricht sie jedoch im Juni wieder ab. "Ich war nur noch ein Häufchen Elend." Neue Tumore oder Metastasen sind bisher nicht festgestellt worden, alle drei Monate wird eine Computertomografie des Unterleibs gemacht. Die Folgen der Operationen und der Chemotherapie spürt die 49-Jährige aber nach wie vor, muss jede Menge Medikamente nehmen.

Die Ärzte: Da ihr gesamter Unterleib von der Krankheit betroffen ist, muss die Otzenhausenerin regelmäßig verschiedene Ärzte aufsuchen, auch um an ihre Medikamente zu kommen. "Mein Hausarzt und mein Urologe dürfen mir bestimmte Medikamente nicht verschreiben, zum Beispiel bei Darmproblemen. Außer auf Privatrezept, dann muss ich die aber selbst bezahlen", erklärt Andrea Borkenhagen.

Die Krankenkasse: Seit November 2011 war die 49-Jährige arbeitsunfähig. Doch im November 2012 teilte ihr die AOK Rheinland-Pfalz/Saarland mit, dass die Krankschreibung zum Ende des Monats beendet sei. Nach Einschätzung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) im Saarland gebe es keine Grundlage für eine weitere Arbeitsunfähigkeit, da es keine neuen Tumore oder Metastasen gebe. Sprich: Die Krankenkasse schrieb Andrea Borkenhagen gesund. "Dabei haben die gar nicht persönlich mit mir gesprochen oder mich gesehen." Über den Sozialverband VdK legte die Krebspatientin Widerspruch ein, das Verfahren zog sich seitens des VdK anderthalb Monate hin. Nachdem die Begründung des Widerspruchs in der vergangenen Woche eingegangen war, lud der MDK sie zur persönlichen Begutachtung nach Saarbrücken ein. Der Termin soll in der kommenden Woche stattfinden.

Das Geld: Zum Zeitpunkt der Blasenkrebs-Diagnose arbeitete Andrea Borkenhagen in einer Wäscherei. Da sie aber noch in der Probezeit war, wurde ihr gekündigt. Seit November 2011 erhielt sie Krankengeld, die Anschlussheilbehandlungen nach den OPs zahlt die Rentenkasse. Nachdem die AOK ihr das Krankengeld aber gestrichen hat, steht sie ohne Einkommen da. Rasch gestellte Anträge auf Rente und Arbeitslosengeld II wurden bisher nicht beschieden. "Ich wollte am 29. November den Antrag auf Arbeitslosengeld II beim Jobcenter in St. Wendel stellen. Da wurde mir gesagt, ich bekomme einen Termin zur Abgabe des Antrags. Bis zum 17. Dezember hatte sich nichts getan, also rief ich an. Dann bekam ich telefonisch einen Termin am 21. Dezember mitgeteilt. Der entsprechende Brief ist bis heute nicht angekommen. Beim Termin war die zuständige Sachbearbeiterin nicht da. Auf meine Fragen, etwa wegen Fahrtkostenübernahme bei Amtsbesuchen, wussten die Mitarbeiterinnen dort keine Antworten", berichtet Andrea Borkenhagen, in ihrer Stimme schwingt eine Mischung aus Wut und Verzweiflung mit. Eine telefonische Nachfrage vor zwei Tagen erbrachte nichts. "Da wurde mir nur gesagt, ich wäre ja ohne Termin aufgetaucht und außerdem würden noch Unterlagen fehlen. Um die abzugeben, würde ich in den nächsten Tagen noch einmal einbestellt."

Das Umfeld: Ihre Beziehung ist kurz nach der Diagnose in die Brüche gegangen. Freunde, Bekannte und Nachbarn haben sich zurückgezogen, können mit der Krebsdiagnose nicht umgehen, dem Sterben auf Raten. "Ich fühle mich allein gelassen", sagt Andrea Borkenhagen. Manchmal sagt ihr jemand, sie sehe ja noch so gut aus. "Aber ich gehe ja auch nur raus, wenn ich mich gut genug dafür fühle und so aussehe." Ihre Schwester begleitet sie zu den Arztbesuchen und Amtsgängen. Ihr 22 Jahre alter Sohn, der in München studiert, kommt so oft wie möglich ins Saarland. Auch andere Familienangehörige unterstützen sie, doch leben diese 500 Kilometer entfernt.

Die Zukunft: Andrea Borkenhagen weint. "Meine Fünf-Jahres-Prognose liegt bei 20 Prozent. Das heißt, nur 20 Prozent der Patienten mit meiner Krankheit leben fünf Jahre nach der Diagnose noch", sagt sie. Der nächste Tumor kann jederzeit auftauchen. "Ich möchte eigentlich nicht mehr dran denken. Doch ich werde immer wieder dazu gezwungen", meint die 49-Jährige und spielt auf den Ärger mit der Krankenkasse und die ständigen Arztbesuche an: "Das macht Kranke noch kränker." Das Sparschwein hat sie noch. Doch Geld für den Urlaub landet nicht mehr darin. "Jetzt ist es dafür da, dass mein Sohn meine letzte Reise bezahlen kann." "Ich fühle mich allein gelassen."

Andrea Borkenhagen

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