Karadzic-Verfahren kann Serbien bis ins Mark treffen

Belgrad. Zufall, aber doch große Symbolik: Wenige Tage nach dem Prozessbeginn gegen den früheren bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic wird in Sarajevo der "Verbrechensatlas" veröffentlicht. Nach über zehn Jahren Arbeit präsentiert das "Forschungs- und Dokumentationszentrum" die Opferliste des Krieges in Bosnien-Herzegowina (1992 bis 1995)

Belgrad. Zufall, aber doch große Symbolik: Wenige Tage nach dem Prozessbeginn gegen den früheren bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic wird in Sarajevo der "Verbrechensatlas" veröffentlicht. Nach über zehn Jahren Arbeit präsentiert das "Forschungs- und Dokumentationszentrum" die Opferliste des Krieges in Bosnien-Herzegowina (1992 bis 1995). Nicht weniger als 99 000 Kriegstote werden hier mit Vor- und Nachnamen samt Todeszeitpunkt, Todesort und Hintergründen aufgeführt. Das ist die Bilanz des Krieges, für den Karadzic vom UN-Kriegsverbrechertribunal angeklagt ist. Die Opfer des für seine Grausamkeit berüchtigten Krieges erwarten von diesem Verfahren Gerechtigkeit, sagen die Angehörigen. Nachdem der serbische Autokrat Slobodan Milosevic noch vor seiner Verurteilung in Den Haag an einem Herzinfarkt gestorben war, ist Karadzic als unangefochtener Führer der Serben in Bosnien jetzt der ranghöchste Missetäter, dem der Prozess gemacht wird. Sein Militärchef Ratko Mladic, der die von Karadzic ermöglichten Gräueltaten in die Tat umgesetzt hatte, ist immer noch auf der Flucht. In Serbien, sagt die Anklage des UN-Tribunals. Wir wissen nicht, wo er ist, wiederholt die serbische Regierung seit Jahren. Für Serbien geht es im Karadzic-Verfahren um alles oder nichts. Im schlimmsten Fall wird der internationale Ruf des Landes endgültig ruiniert, und die ohnehin am Boden liegende Wirtschaft könnte unter Schadensersatzforderungen in dreistelliger Milliardenhöhe zusammenbrechen. Die alles entscheidende Frage für Belgrad ist, ob Karadzic im Prozess nachzuweisen versucht, dass er nur das Werkzeug des Serben Milosevic gewesen sei, dass der alles ausgeheckt und zu verantworten habe. Im Februar 2007 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) der Vereinten Nationen ebenfalls in Den Haag Serbien im Fall von Srebrenica von der Anklage des Völkermordes freigesprochen. Bosnien hatte Serbien als Schuldigen für dieses größte Kriegsverbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa wegen Genozids verurteilen lassen wollen. Bis zu 8000 muslimische Jungen und Männer waren von serbischen Verbänden im Juli 1995 in diesem ostbosnischen Ort ermordet worden. Sarajevo hatte Belgrad auf 100 Milliarden Dollar Schadensersatz verklagt, für die nach dem Urteil des IGH allerdings keine Rechtsgrundlage mehr bestand. Jedenfalls ist die enge Zusammenarbeit zwischen Milosevic und Karadzic hundertfach belegt, auch wenn sich Karadzic am Schluss mit seinem Ziehvater und Mentor überwarf. "Jugoslawien (Serbien und Montenegro) hat an diesem Krieg nicht teilgenommen", hatte das Credo von Milosevic gelautet. Doch die Waffen und teilweise die Offiziere, die Paramilitärs sowie die Logistik der Geheimdienste stammten aus Serbien. Serbiens amtierender Präsident Boris Tadic hat gerade erst wieder die Rolle seines Landes als Aggressor und "Verbrecher" zurückgewiesen. In Bosnien und auch in Kroatien habe es sich um "Bürgerkriege" gehandelt, in denen alle Seiten Kriegsgräuel begangen hätten. Damit stellt er alle Beteiligten auf eine Stufe. Der Karadzic-Prozess könnte die Völkerrechtsklage Bosniens gegen Serbien neu aufrollen. Er könnte auch die Basis für die vor dem IGH laufende Genozid-Anklage Kroatiens gegen Serbien bilden.

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