Karadzic greift Deutschland an

Brüssel. Er schwieg monatelang. Seit gestern redet Radovan Karadzic. Und er greift vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag alle an - die USA, die Nato und vor allem Deutschland. Mit ihrer voreiligen Anerkennung der damaligen jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien, Kroatien und Bosnien habe die Bundesrepublik die Bürgerkriege auf dem Balkan mit zu verantworten

Brüssel. Er schwieg monatelang. Seit gestern redet Radovan Karadzic. Und er greift vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag alle an - die USA, die Nato und vor allem Deutschland. Mit ihrer voreiligen Anerkennung der damaligen jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien, Kroatien und Bosnien habe die Bundesrepublik die Bürgerkriege auf dem Balkan mit zu verantworten. "Deutschland wollte fortführen, was 1945 scheiterte", doziert der Mann, der die Ermordung von über 8000 Muslimen in Srebrenica angeordnet haben soll, der Sarajevo monatelang belagern ließ und aus dem Balkan ein Pulverfass machte. "Alles Fabrikation", nennt er das, eine "Verzerrung der Wirklichkeit". Was der amerikanische Ankläger Alan Tieger und die deutsche Staatsanwältin Hildegard Uertz-Retzlaff zusammengetragen haben, solle "das Tribunal nur zu einem Disziplinierungsinstrument der Nato gegen mich" machen. Zwei Millionen Seiten Beweise, Tausende von Videos und Augenzeugen-Berichte - alles "erlogen"? Der einstige Psychiater und Kinderbuchautor verteidigt sich nicht, er doziert, lässt Video-Sequenzen einspielen und PowerPoint-Folien zeigen. Natürlich spricht er serbokroatisch und nicht Englisch, obwohl er das bestens beherrscht. Karadzics Auftritt soll zuhause bei den Anhängern ankommen, soll zeigen "Ich bin unschuldig". Und: "Ich bereue nichts." Sein Volk habe sich wehren müssen, als die bosnischen Muslime unter Alia Izetbegovic und die Kroaten unter Franjo Tudjman sich gegen seine Landsleute zusammengeschlossen hätten. Alle gegen Serbien: die internationalen Helfer ("Das waren alle Agenten und haben Waffen geschmuggelt"), die Blauhelme ("Instrumente der USA") und selbst die, die versucht hatten zu vermitteln ("Sie wollten die Serben ausradieren"). 500 Jahre habe sein Volk gelitten: "Die Sache der Serben ist gerecht und heilig", sagt der 64-Jährige. Elf Anklagepunkte hat das internationale Team gegen ihn zusammengetragen: unter anderem Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Aufstachelung zum Rassenhass, Völkermord. Lebenslange Haft droht ihm, sollte der Vorsitzende Richter O-Gon Kwon aus Südkorea am Ende zu einem Schuldspruch kommen. Doch bis dahin werden noch Monate verstreichen, in denen Hunderte von Augenzeugen angehört werden, viele davon wollen dem Serben-Führer nicht in die Augen sehen und haben nur einer Aussage in einem getrennten Raum zugestimmt. Doch Karadzic hat eine andere Strategie. Er weiß, dass es innerhalb der Nato Mitte der 90er Jahre Ungereimtheiten gab, einige der Einsätze erscheinen anfechtbar. Erst nach Berichten von ethnischen Säuberungen entschloss sich das Bündnis zu Angriffen gegen die Serben, schließlich sogar zum Bombardement Belgrads. Bis heute ist offen, ob das UN-Mandat diese Aktionen eigentlich einschloss. "Wir haben gute Beweise", sagte Karadzic gestern. Die Gegenbeweise nennt der Angeklagte "erlogen und das Werk gekaufter Journalisten". 2008 war Karadzic nach jahrelanger Suche in Belgrad festgenommen worden, wo er als Psychiater untergetaucht lebte. Dort hat er noch immer Freunde, Verbündete, Sympathisanten. Karadzic versucht, den Prozess zu instrumentalisieren, um diese Leute zu erreichen. Heute darf er noch einmal reden. Dann sind die Ankläger dran.

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