Eskalierende Gewalt bringt Erdogan in die Bredouille

Istanbul · Ein Offizier der türkischen Armee bringt Präsident Recep Tayyip Erdogan in Schwierigkeiten. Mit einer Wutrede bei der Trauerfeier für seinen getöteten Bruder hat der Oberstleutnant Mehmet Alkan ausgedrückt, was viele Türken denken: Dass Erdogan und die Regierung die jüngsten Gefechte zwischen der Armee und den PKK-Kurdenrebellen für wahltaktische Zwecke ausnutzen.

Ankara ist besorgt, denn die Trauerfeiern für Soldaten werden wenige Monate vor der geplanten Neuwahl im November immer häufiger zur Bühne regierungsfeindlicher Proteste.

An der Beisetzung von Alkans Bruder Ali im südtürkischen Osmaniye nahmen am Wochenende rund 15 000 Menschen teil. Vertreter von Erdogans Regierungspartei AKP hatten sich laut Presseberichten in die vorderste Reihe der Trauergäste gedrängt. Die Menge quittierte das Verhalten der Politiker mit Protestrufen. Doch das war erst der Anfang. In voller Uniform arbeitete sich Oberstleutnant Alkan zum Sarg seines Bruders vor und rief: "Wer sind die Mörder?" Als Antwort zeigte er auf die Regierung, die bis vor kurzem eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts angestrebt hatte, nun aber plötzlich massiv gegen die PKK vorgeht.

Alkans Wutausbruch war gestern das Hauptthema in etlichen Zeitungen - wurde aber von der regierungsnahen Presse geflissentlich ignoriert. AKP-freundliche Kommentatoren forderten auf Twitter , Alkan müsse aus der Armee geworfen werden, weil er PKK-Propaganda verbreitet habe. Doch Alkan erfuhr auch viel Unterstützung. Die Solidaritätsformel "Wir alle sind Oberstleutnant Mehmet Alkan" war gestern der meistbenutzte Hashtag auf Twitter in der Türkei.

Auch in anderen Städten werden bei Trauerfeiern für gefallene Soldaten wütende Proteste laut. Kürzlich musste der stellvertretende Ministerpräsident Yalcin Akdogan eine Beisetzung fluchtartig verlassen, nachdem er in Sprechchören beschimpft worden war. Für die Regierung sind die Reaktionen deshalb bedenklich, weil an den Trauerfeiern stets auch viele Normalbürger teilnehmen - also genau jene Wähler , die Erdogan bei der Wahl im November erreichen will. Bisher setzt Erdogan gegenüber der PKK auf Entschlossenheit und Härte. Erst vor wenigen Tagen stimmte er die Türken auf weitere Verluste ein: Das Blut der "Märtyrer" werde weiter fließen, sagte er. In wenigen Wochen sind rund 50 Soldaten und Polizisten von der PKK getötet worden.

Doch der Plan des Präsidenten, mit verschärften Spannungen im Land die nationalistischen Wähler um die AKP zu scharen, wird möglicherweise nicht funktionieren. Die Türken mögen die PKK ablehnen - doch einen neuen Krieg gegen die Rebellen wollen sie deshalb noch lange nicht. Zwei Jahre Waffenstillstand haben auch den skeptischsten Wählern vor Augen geführt, wie sehr das ganze Land davon profitiert, wenn die Waffen schweigen.

Erdogan hätte den Friedensprozess vorantreiben sollen, statt ihn abzuwürgen. Das hätte ihn zwar kurzfristig ein paar nationalistische Stimmen gekostet. Doch nach der Juni-Wahl hätte die Türkei vier Jahre Zeit bis zur nächsten regulären Wahl gehabt, um die Früchte des Friedens zu ernten. Nun jedoch strebt Erdogan ohne Not eine rasche Neuwahl an und setzt auf Unnachgiebigkeit, um rechte Wähler zu umwerben. Damit könnte er selbst die Weichen für eine neue Niederlage gestellt haben.

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