Die Vorläufigkeit von Aufbrüchen

Berlin ist die Hauptstadt der Improvisation. Gentrifizierung und Prekariat sind Vokabeln für eine Metropole, die immer in Bewegung ist, auch wenn ihr nicht nur am neuen Flughafen das Abheben schwerfällt. Arm, aber sexy war mal die Parole, deren zweites Attribut wankt. Vor allem in Mitte wächst ein fragwürdiger Chic, der die Szene in andere Bezirke treibt

Berlin ist die Hauptstadt der Improvisation. Gentrifizierung und Prekariat sind Vokabeln für eine Metropole, die immer in Bewegung ist, auch wenn ihr nicht nur am neuen Flughafen das Abheben schwerfällt. Arm, aber sexy war mal die Parole, deren zweites Attribut wankt. Vor allem in Mitte wächst ein fragwürdiger Chic, der die Szene in andere Bezirke treibt. Aufbruch ist ein mindestens doppeldeutiges Wort.Erasmusstudenten und Migranten versus orthodoxe Berliner, steigende Mietpreise versus Dauerparty. Laut, schrill werden die Reviere markiert und mittendrin rödeln die sogenannten Kreativen, von denen es hier einfach zu viele gibt: planlose Architekten, Möchtegernschauspielerinnen, Zeilenschinder, ewige Praktikanten an der Kante ihrer Einjahresverträge, Blogger, Webdesigner, Büronomaden. Überhaupt die digitale Bohème, die in den Caféhäusern ihre Laptops streichelt. Weil ihre Lage prekär ist, bilden sie das Prekariat.

Thomas Frantz ist einer von ihnen. Mitte 40, hat er schon bessere Zeiten gesehen. Da war er ordentlich rumgekommen in der Welt und seine Reportagen wurden gedruckt. Da kannte er keinen Chef, keine Konferenzen. Da hieß Freier sein noch Freisein. Dann wurde er älter und irgendwie sind ihm die Dinge verrutscht. Der aus Überzeugung Kinderlose mutierte zum Schwerenöter und Flaneur in eigener Sache, zum permanenten Problemsucher, der täglich seine Zweifel nährt. Alkohol, Frauen, Auftragslosigkeit treiben den butterweichen Hünen um, der sich neben dem richtigen Leben ins World Wide Web eingeloggt hat. So zappelt er im Netz, netzwerkt am Rande des Dispos, den ihm die Bank inzwischen verweigert.

Alles läuft simultan ab im Leben dieses ratsuchenden Stadtdurchradlers, der mal schön ironisch die Dinge auf die Spitze treibt, mal weinerlich vor ihnen in die Knie geht und sie manchmal auch beflissen mit Schaum vor dem Mund plakativ kritisiert. Dann ist das lesenswerte Buch am schwächsten. Am stärksten ist es, wenn es möglichst nah an seinem Vorbild ist: Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz". Dann verweist nicht nur der Nachname dieses Antihelden auf Franz Biberkopf, dann funktioniert das gesamte Collageprinzip wie ein Update, mit dem der heutige Moloch Großstadt aus vielen Momentaufnahmen zusammengesetzt wird.

Dann folgt man diesem Stadtstreuner gern auf seinen Wegen und beobachtet, wie ihm die Dinge über den Kopf wachsen. S-Bahn-Fahrten und dabei aufgeschnapptes Sprachfetzenkaleidoskop; Swingerclub und der Kotti mit seinen Migranten; Kaufhauseröffnung am Alex und Kundenzentrum eines Stromkonzerns; ein ruinöses deutsches Haus der Geschichte als Spekulationsobjekt; Partys, Kneipen, Hunde und ziemlich alte Paare mit kleinen Kindern am Prenzlauer Berg; Wettbüro, Krankenhaus und als Tresenersatz die Stromverteilerkästen im Freien, wo die Bierflaschen stehen und in Griffweite die Typen dazu.

Alles ist vorläufig im Berlin dieser Tage und die Seitenpfade sind von Ratten unterhölt, von denen auf jeden Bewohner drei bis vier kommen sollen. Das produziert Gehwegschäden, die nicht mehr beseitigt, sondern nur noch korrekt und resigniert beschildert werden. Sie verhelfen diesem ausufernd die Situationsminiaturen addierenden Roman zu seinem schön doppeldeutigen Titel. Weggehen nämlich würde diesem Thomas Frantz nur schaden.

"Wer jammert, hat noch vierzig Prozent", heißt die Formel seines Schachboxtrainers, bei dem er lernen will, die Kluft zwischen Intelligenz und Kraft zu überwinden. Auch Sandra ist dort und es könnte sich etwas ergeben. Die gemeinsame Kunstaktion am Rosenthaler Platz ärgert vielleicht die Anlieger, freut aber die weltweite YouTube-Gemeide. Das zählt, denn vielleicht findet das doppelbödige Leben ja längst bei den digitalen Kindern im Netz statt?

Helmut Kuhn: Gehwegschäden. Frankfurter Verlagsanstalt. 444 Seiten, 22,90 €

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