Waghalsige Szenarien

Saarbrücken. Hatte Hitler einen Schutzengel? Es ist unwahrscheinlich, dass sich etwa die Angehörigen der Leibstandarte Adolf Hitler als solche tituliert hätten. Der Diktator hat sich vielmehr auf den Schutz durch die Vorsehung berufen, immer dann, wenn wieder ein Attentatsversuch auf seine Person unglücklicherweise fehlgeschlagen war

Saarbrücken. Hatte Hitler einen Schutzengel? Es ist unwahrscheinlich, dass sich etwa die Angehörigen der Leibstandarte Adolf Hitler als solche tituliert hätten. Der Diktator hat sich vielmehr auf den Schutz durch die Vorsehung berufen, immer dann, wenn wieder ein Attentatsversuch auf seine Person unglücklicherweise fehlgeschlagen war. Dass nun ausgerechnet ein ebenso vielseitig wie hochgebildeter Autor wie Dieter Kühn einen Schutzengel namens Angelos erfindet, der sich um das Wohl und Wehe Hitlers sorgt und sein Tun monologisch reflektiert, das ist schon ein wenig waghalsig und verquer. All dies tut er unter der Obhut eines "Archistrategen Gottes" namens San Michele Archangelo. Doch auch bei dieser klugen Betrachtungsweise und theologisch wie philosophisch beachtlichen Beredsamkeit wird nicht klar, zu welcher Erkenntnis Kühn führen will. So rätselt auch der Schutzengel: "Ist Hitlers Innere Stimme ein Reflex dessen, was Er mir souffliert hat?"

Es ist aber keineswegs ein Tabubruch, den Kühn uns hier beschert. Kühn, der sich vor allem durch sein "Mittelalter-Quartett" und die Übertragungen aus dem Mittelhochdeutschen hohes Ansehen erworben hat, hatte sich bereits in den letzten Jahren mehr und mehr mit der Nazi-Zeit beschäftigt. Zuletzt in "Schillers Schreibtisch in Buchenwald" (2005). Jetzt erzählt er in vier fiktiven Versionen, wie es hätte aussehen können, wenn Hitler rechtzeitig umgebracht worden wäre. Einmal gelingt das Attentat von Georg Elser 1939 im Bürgerbräukeller. Das andere Mal wird die "Führermaschine" auf dem Rückflug von Smolensk gesprengt. Was wäre gewesen, wenn . . .? Mit dieser hypothetischen Fragestellung wirft Kühn seine ebenso verblüffende wie literarisch kunstvolle Erzählmaschine an. Mal regiert nach Hitlers Tod Hermann Göring, ein anderes Mal tritt Heinrich Himmler die Nachfolge an. Schließlich darf auch noch Feldmarschall Erwin Rommel die Geschicke Deutschlands weiterlenken. Kühn traut sich was. Sogar den letzten deutschen Kaiser holt er aus dem niederländischen Exil. Dass der olle Göring prominente Widerstandskämpfer vom 20. Juli nicht hinrichten lässt, sondern ins neue deutsche Friedenskabinett holt - nun ja, wenn man sich an solche literarischen Kopfsprünge gewöhnt hat, wird man Kühns kuriosen Gedankenspiele ein gewisses Faszinosum nicht versagen können. wos

Dieter Kühn: Ich war Hitlers Schutzengel. Fiktionen. Fischer, 208 S., 17,95 Euro.

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