Theatertreffen oder: Mach's ohne Gefühl

Berlin · Das Berliner Theatertreffen ist das wichtigste Schauspiel-Festival der Republik. Im Idealfall ist es mehr als ein Besten-Treffen, es zeigt ästhetische Trends. Der neue Jahrgang sagt: Das Schauspiel bewegt sich in Richtung Bilder-Theater.

 Coole Exzesse: Bibiana Beglau (oben) und Fatima Dramé in „Reise ans Ende der Nacht“. Foto: Horn

Coole Exzesse: Bibiana Beglau (oben) und Fatima Dramé in „Reise ans Ende der Nacht“. Foto: Horn

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Immerhin, sagt sich der Festivalbesucher nach fünf Abenden. Immerhin hat man wenigstens das beste Bühnenbild der Saison gesehen. Aleksandar Denic hat es für den Theaterpunker Frank Castorf (62) gebaut, für dessen Céline-Bearbeitung "Reise ans Ende der Nacht" (1932). Doch selbst dieser hysterische vierstündige Exzess über Kolonial-Elend, Ersten Weltkrieg und Drogensucht löste nur kopfgesteuerte Zustimmung aus, keine Gefühls-Aufwallung. Verzauberung hat sich nicht eingestellt, die Beflügelung durch Genuss, die emotionale Berührung.

Theaterkritiker als Juroren

Denn die Theaterkritiker-Jury, die die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen auswählt, die dann als Gastspiele nach Berlin eingeladen werden, hat sich wohl in eine neue Theatersprache verguckt: "Visual Art" stand über fast jedem Abend. Zelebriert wurden kunstvoll-kühle Bild-Installationen statt lebendiges, sprechbetontes Schicksals-Spiel. Selbst ein Stuttgarter "Wanja" (Regie: Robert Borgmann) stellt Tschechows erfolglos liebende, alltagszerriebene Landgut-Clique über drei lange Stunden in eine Art Slow-Motion-Sequenz, zwischen Gartenstühle und einen abgewrackten Volvo. Weg mit Saft und Kraft und Leben - diese Stil-Ausrichtung brachte weder Publikum noch die Hauptstadt-Kritiker bis zur Halbzeit in Gefühls-Fahrt. Belebung brachte das oberpeinliche Skandälchen um eine Jurorin, die bei Dramaturgen abgekäst hatte. Die Schweizerin Daniele Muscionico trat zurück, der Vertrauensabsturz der Jury bleibt.

Zumindest einmal erlebte man dann Standing Ovations, für das Müllkippen-Tanz-Stück "tauberbach" von Alain Platel (Münchner Kammerspiele). Aber wäre diese großartige Choreografie von "les ballets C de la B" (Gent) in einem Tanzfestival nicht besser platziert gewesen? Denn das Herz von "tauberbach" ist eine staunenswerte Bewegungssprache jenseits der ästhetischen Konvention. Platel zeigt Versehrte, überführt Verformungen und Spasmen in eine frappierende Harmonie, katapultiert seine Tänzer in Entrückung und Entäußerung. Dies geschieht punktuell zum dissonanten Gesang von Gehörlosen, die Bach-Choräle intonieren. Beschädigte Melodien von Beschädigten, das beschämt, rührt und verstört.

Auch Marie Luise Fleißers 20er Jahre-Stück "Fegefeuer in Ingolstadt" über den religiösen Fanatiker und Außenseiter Roelle (Christian Löber) hätte das Zeug zu einer aufrüttelnden Sozialstudie. Doch die Newcomerin Susanne Kennedy abstrahiert, kahlt aus, entfärbt das Kleinbürger-Drama, zerhackt es durch Maschinen-Gedröhn und Blackouts in Mini-Szenen. Letztere sind kaum mehr als statische, gespenstische Figuren-Anordnungen. "Das Fegefeuer" (Münchner Kammerspiele) tobt zwischen klinisch weißen Wänden, selbst Kruzifix und Esstisch sind entfärbt (Bühne: Lena Müller). Die Dialoge kommen vom Band, wächserne, steife Gestalten in ausgebleichten Kleidern sprechen sie in Playback: bigotte Mütter, bösartige Schwestern, unbarmherzige Mitschüler. Eine derartige Tiefkühl-Szenerie, mehr Gemälde denn Theater, sah man noch nie. Dafür gab's für Kennedy den 3sat-Preis für eine richtungweisende Leistung.

Castorf übertrifft sich selbst

Trotzdem nagt ein Unbehagen: Könnte man diese Stilisierung nicht auch jedem anderen Stück über Ausgrenzung überstülpen? Selbstverständlich wäre dieser Vorwurf auch Castorf zu machen. Seit 1990 wurde er 13 Mal (!) eingeladen. Man dachte, man kenne jeden Blitz im Castorfschen Bildgewitter. Doch in der "Reise" überbietet er sich selbst. So viel Überdrehtheit war nie. Denics Kulisse bietet dafür ineinander verschachtelte Kajüten, Bars, Balkone und Wohn-Kojen, einen grandiosen Zwitter aus Schiff und Armensiedlung. Live-Kameras übertragen das Geschehen auf eine gigantische Kinoleinwand. Und Castorf peitscht das Ensemble des Münchner Residenztheaters in jede Extremlage, lässt Clowns-Nummern auf Jammer-Passagen knallen. Gefallen muss einem das nicht, imponieren kann es gleichwohl.

Ähnliches gilt für die Performance "Mystery Magnet" von Miet Warlop beim "Stücke-markt". Der sollte einst Dramatiker-Talente vorstellen. In diesem Jahr erfolgte eine Neuausrichtung, es ging um progressive Theatersprachen. Und so sah man denn ein wortloses, totalverrücktes Happening. Farbbeutel explodierten, Menschen blieben in Pappwänden stecken - malerische Zeichen. Aber Theater?

Noch bis zum 18. Mai. Info:

www. berlinerfestspiele.de

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