Das „große Loch“ nach den Stars

Saarbrücken · Der neue Olympia-Zyklus beginnt, der Verteilungs-Kampf um Fördergelder ist im Gange. Auch im Saarland müssen Verbände und Sportarten ihre Ziele für 2020 definieren. Die SZ beleuchtet ihre Situation.

Wenn Margret Kratz vom Frauenfußball erzählt, lässt es sich vortrefflich zuhören. Das Wort der 54-Jährigen hat Gewicht, ihre Kompetenz ist unbestritten. Schließlich hat es Kratz nicht nur selbst bis in die Nationalmannschaft geschafft. Nach ihrer Karriere erwarb sie als erst zweite Frau in Deutschland nach Ex-Bundestrainerin Tina Theune die Fußballlehrer-Lizenz. 1992 war das - und seit dieser Zeit hat sie nicht nur unzählige Männer als Trainer aus- und fortgebildet, sondern auch aus vielen talentierten Mädchen sehr gute Fußballerinnen geformt.

Zwei dieser Talente sorgten jüngst bei den Olympischen Spielen in Rio für eine der großen Stunden im deutschen Frauenfußball . Die Rede ist von den Olympiasiegerinnen Dzsenifer Marozsan und Josephine Henning. "Josie war die Erste, unser Versuchskaninchen", erinnert sich die Verbandstrainerin des Saarländischen Fußballverbandes an die Anfänge der Eliteschule des Mädchenfußballs in Saarbrücken . Im Jahr 2007 wurde diese offiziell gegründet, Henning kam schon 2006 von Trier ins Saarland. "Da konnten wir testen, was wir brauchen, was noch fehlt, wo es noch hakt", erzählt Kratz.

Während Kratz Henning als "extrem ehrgeizige Arbeiterin" charakterisiert, lagen die Dinge bei Marozsan anders. "Bei ihr war von Anfang an klar, was für ein herausragendes Talent sie ist", sagt Kratz über die gebürtige Ungarin, die im Alter von vier Jahren nach Saarbrücken kam, weil Vater Janos beim 1. FC Saarbrücken als Profi angeheuert hatte. Die Familie blieb im Saarland - und Dzsenifer, die ihre ersten Schritte bei Olympia Burbach machte, wurde im Saarland zu der Spielerin ausgebildet, die das Olympia-Finale im Maracana mit einem Tor und einer Vorlage quasi im Alleingang entschied. "Es wurde ihr in die Wiege gelegt, sie wäre überall zu dieser großartigen Spielerin geworden", sagt Kratz bescheiden: "Aber Josie hat die Eliteschule gebraucht, um Nationalspielerin zu werden. Sie hat sich alles erarbeitet."

Eine dritte im Bunde will Kratz nicht vergessen - auch wenn sie in Rio nicht dabei war: Nadine Keßler, ebenfalls an der Eliteschule des Mädchenfußballs groß geworden. "Sie war von ihrer Persönlichkeit etwas ganz Besonderes", sagt Kratz über die Weltfußballerin 2014, die im April im Alter von 28 Jahren ihre Karriere wegen einer Knieverletzung beenden musste. Keßler war die Antreiberin, die, die alle mitreißen konnte mit ihrer Leidenschaft, ihrem Siegeswillen.

Dass gleich drei Weltklasse-Spielerinnen ihre sportlichen Wurzeln in einem der kleinsten Landesverbände des Deutschen Fußball-Bundes haben - ist das einfach Glück? "Der Saarländische Fußball-Verband, der Landessportverband für das Saarland , der Olympiastützpunkt, der DFB, der Verein 1. FC Saarbrücken - das hat unglaublich gut funktioniert", erzählt Kratz: "Und das war damals eine Generation, die funktioniert hat. Die sind nicht auf die Idee gekommen, mit 17 Jahren zu einem Erstligisten zu wechseln." Um dort dann auf der Bank zu versauern - oder wie Kratz es formuliert: "Ich habe immer gesagt: Hier sitzt ihr im Wohnzimmer am offenen Kamin, dort im kalten Keller." Gerade die Zeit beim FCS, wo alle Talente damals spielten, sorgte dafür, dass die Spielerinnen schon in jungen Jahren einen großen Rückhalt bei ihren Fans hatten.

"Wenn du mal eine solche Generation hattest und den heutigen Talenten erzählst, dass Nadine oder Dzsenifer hier waren, hier die ersten Schritte gemacht haben - dann hast du etwas Greifbares. Und wenn du etwas greifen kannst, glaubst du auch daran. Damit bringst du die Herzen zum Brennen", sagt Kratz über die Arbeit mit den aktuellen Talenten: "Das Herz zum Brennen zu bringen, ist wichtiger, als den richtigen Schuss zu vermitteln. Mentalität schlägt am Ende die Qualität, davon bin ich überzeugt."

Wenn der Blick nun zu den Olympischen Spielen 2020 in Tokio vorausgeht, wagt Kratz die nicht wirklich überraschende Prognose, dass Marozsan (derzeit bei Olympique Lyon unter Vertrag) und Henning (FC Arsenal London), so sie denn gesund bleiben, auch dann mit von der Partie sein werden. Ob es aus dem aktuellen Nachwuchs jemand schaffen kann? "Ich bin überzeugt, dass wir wieder eine A-Nationalspielerin bekommen", sagt Kratz: "Das ist ganz wahrscheinlich. Aber", gibt sie unumwunden zu: "Wir haben gerade ein großes Loch."

Bis in die Altersklasse U17 stellt das Saarland regelmäßig Jugend-Nationalspielerinnen, aber seit dem 1992er Jahrgang hat keine mehr den Sprung in die U19 geschafft. Egal ob Chiara Klein, Marie Steimer, Emma Dörr, Lara Martin oder Lena Reiter, die allesamt beim FCS spielen. "In die U19 zu kommen, ist ohnehin schwerer, weil sie mehrere Jahrgänge umfasst", sagt Kratz: "Und wenn du ein Jahr nur auf der Bank sitzt, dann spielst du keine Nationalmannschaft mehr."

Das ist zumindest der Versuch einer Erklärung, warum es die letzten Talente allesamt nicht mehr in die Nationalmannschaft geschafft haben. Beim 1. FC Saarbrücken , dem aktuell höchstklassig spielenden Verein im Saarland, kamen sie nach der Jugend nicht so zum Zuge, wie es für die Entwicklung förderlich gewesen wäre. Exemplarisch dafür steht Nadine Winckler: Die 17-jährige Torhüterin wechselte vor der Saison zum Zweitliga-Aufsteiger 1. FFC Niederkirchen - weil beim FCS die erfahrenere Christina Ehl den Vorzug erhielt. Wincklers vorherige Rolle hat nun Tilda Novotny eingenommen, die bis zuletzt ebenfalls in der Jugend-Nationalmannschaft war, für die am Freitag beginnende U17-WM aber nicht berücksichtigt wurde. Während ihre früheren Nationalmannschafts-Kolleginnen in Jordanien um den WM-Titel spielen, müssen sich Novotny, Martin und Reiter mit der Saarauswahl ebenfalls ab Freitag beim U18-Länderpokal in Duisburg beweisen - ihre vielleicht letzte Chance, um sich für die U19 nochmal ins Gedächtnis zu rufen.

Spielen bei Jungs als Schlüssel

Ein Name, der ebenfalls im Gedächtnis bleiben sollte, wenn es um großes Potenzial und eine mögliche Karriere in der A-Nationalmannschaft geht, ist der von Kim Fellhauer. "Sie kam mit zehn, elf Jahren hierher", erinnert sich Kratz an die 18-Jährige, die sich nach einem Kreuzbandriss im letzten Spiel für den FCS vor zwei Jahren und einigen Komplikationen in der Folge gerade ins Mannschaftstraining des Bundesligisten SC Freiburg zurückkämpft. "Sie hat sich von Anfang an an Dzsenifer Marozsan orientiert, da wollte sie immer hin. Ich hoffe sehr, dass sie gesund wird und es schafft", sagt Kratz über das Ausnahmetalent, das bis zur Verletzung in ihrem Jahrgang bundesweit herausragte.

Auch in den aktuellen Jugend-Jahrgängen (B-Jugend und jünger) befinden sich laut Kratz "überdurchschnittliche Spielerinnen" und nennt Namen wie Lena Lattwein, Elisa Skrotzki, Aliya Diagne, Lea Grünnagel, Corinna Jaeschke oder die Torhüterinnen Helen Kuhn und Laura Dick. Viele von ihnen spielen übrigens nicht bei den Mädchen des FCS, sondern in Jungen-Mannschaften. Dies ist die Philosophie des DFB, die Kratz aus eigener Überzeugung zu 100 Prozent teilt. "Die Mädels kriegen mehr Power, eine bessere Handlungsschnelligkeit, ein besseres Durchsetzungsvermögen, wenn sie so lange wie möglich mit Jungs spielen. Das hat die Vergangenheit gezeigt", erläutert sie und nennt A-Nationalspielerin Sara Däbritz als Beispiel. Dies ist auch ein Punkt, der aktuell die Zusammenarbeit mit dem FCS belastet, der als Verein andere Interessen verfolgt als der Verband und der DFB.

"Klar ist aber auch: Je älter die Mädels werden, umso abhängiger sind sie von den Vereinen", sagt Kratz, deren Arbeit im Land nach der U18 endet. Übersetzt heißt das: Ob Talente - wie etwa Martin oder Reiter in der vergangenen Saison - in ihren Clubs spielen oder nicht, darauf hat die Verbandstrainerin keinen Einfluss.

 Sie verließ den FCS, um sportlich voranzukommen: Torhüterin Nadine Winckler. Foto: schlichter

Sie verließ den FCS, um sportlich voranzukommen: Torhüterin Nadine Winckler. Foto: schlichter

Foto: schlichter
 Sie hoffen noch auf den Durchbruch: Lara Martin und Lena Reiter (von links). Foto: Schlichter

Sie hoffen noch auf den Durchbruch: Lara Martin und Lena Reiter (von links). Foto: Schlichter

Foto: Schlichter
 Nadine Keßler, Weltfußballerin 2014, dient den Talenten im Land als Vorbild. Foto: Wieck

Nadine Keßler, Weltfußballerin 2014, dient den Talenten im Land als Vorbild. Foto: Wieck

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Dass dem Saarland ein Frauenfußball-Erstligist gut zu Gesicht stehen würde, muss Kratz nicht betonen. "Ich würde es mir wünschen, dass der FCS aufsteigt", sagt die 54-Jährige: "Und es ist für mich schwer nachvollziehbar, dass es in der vergangenen Saison nicht geklappt hat." Der FCS war als Topfavorit in die Runde gestartet, wurde dem Anspruch aber nicht gerecht. Auch der Start in die neue Spielzeit verlief eher schlecht. Nach drei Niederlagen zum Auftakt gewann der FCS am vergangenen Wochenende sein erstes Spiel (3:2 bei Schott Mainz). "Ich bin aber überzeugt", sagt Kratz, "dass das Saarland mittelfristig erstklassig sein wird." Für die Eliteschule wäre das "Gold wert". Das Potenzial scheint auf jeden Fall schon vorhanden zu sein.

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