Verhandlungen per Video Brexit-Gespräche gehen in die nächste Runde

London · Dieses Mal wird über Videoschalte verhandelt – anders als Anfang März. Boulevard-Zeitungen spekulieren, ob der EU-Unterhändler Barnier damals die britische Regierung angesteckt hat.

Die Verhandlungsführer David Frost (li.) und Michel Barnier standen bei den Brexit-Gesprächen Anfang März ziemlich dicht beieinander. Später erkrankten beide an Covid-19 – was Spekulationen auslöste.

Die Verhandlungsführer David Frost (li.) und Michel Barnier standen bei den Brexit-Gesprächen Anfang März ziemlich dicht beieinander. Später erkrankten beide an Covid-19 – was Spekulationen auslöste.

Foto: picture alliance/AP Photo/dpa Picture-Alliance / Olivier Hoslet

Zu den kruden Theorien, die in dieser Form wohl nur Großbritanniens europaskeptische Boulevardpresse spinnen kann, gehört jene, nach der Brüssels Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier Schuld an Boris Johnsons Infizierung mit Covid-19 haben könnte. Barnier und sein britischer Gesprächspartner David Frost trafen sich nämlich Anfang März zur ersten Runde der Verhandlungen über ein künftiges Freihandelsabkommen. Kurze Zeit später gab Barnier bekannt, er sei positiv auf das Coronavirus getestet worden, Frost zeigte ebenfalls milde Symptome. Die Mail on Sunday überlegte daraufhin öffentlichkeitswirksam auf der Titelseite, ob Barnier als „Patient null“ für die Ansteckungskette in der Downing Street verantwortlich zeichnete, während der auch Großbritanniens Premierminister Johnson schwer erkrankte. „Könnte dies die ultimative Rache für den Brexit sein?“, fragte die Zeitung.

Die Episode veranschaulicht, dass der Ton auch nach dem offiziellen EU-Austritt Großbritanniens Ende Januar rau bleibt – trotz Corona-Krise auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Diese Woche startete via Videokonferenz die zweite Verhandlungswoche, nachdem zwei Runden abgesagt wurden, um den beiden führenden Unterhändlern Zeit zur Genesung zu geben. Wer jedoch geglaubt hat, dass die Pandemie Großbritannien dazu bewegt, eine Verlängerung der am 31. Dezember auslaufenden Übergangszeit zu beantragen, sah sich getäuscht. Frost gab via Twitter die Regierungslinie vor, nach der London nicht darum bitten werde, die Phase zu verlängern, in der sich de facto nichts ändert. „Und wenn die EU danach fragt, werden wir Nein sagen.“ Ein Aufschub der Frist bringe nur Unsicherheit für Unternehmen, zudem führe er dazu, dass die Briten weiter Beiträge an die EU zahlen müssten, so die Argumente der Brexit-Hardliner.

Hinzu käme, dass man angesichts der wirtschaftlichen Herausforderungen durch die Coronavirus-Krise freie Hand wünsche ohne Bindung an EU-Regeln. Will die britische Regierung tatsächlich einen No-Deal-Brexit riskieren? Ausgerechnet dann, wenn das Land ohnehin schon mit den Auswirkungen des Lockdowns kämpft? Experten sind sich unsicher, ob es sich um einen Bluff handelt oder ob Johnson es ernst meint. Immerhin, der Konservative „will sich den Ruf bewahren, dass er in Sachen Brexit stets liefert, was er versprochen hat“, sagt Anand Menon, Politikprofessor am King’s College und Direktor der renommierten Denkfabrik „UK in a Changing Europe“. Dabei deuten Umfragen an, dass zwei Drittel aller Briten eine Verlängerung der Übergangszeit befürworten. Sogar knapp die Hälfte der Brexit-Anhänger finden, man brauche mehr Zeit. Denn schon ohne Corona-Desaster war der Zeitplan so eng gestrickt, dass ein umfassender Freihandelsvertrag bis Ende des Jahres fast unmöglich schien. Normaler­weise dauern entsprechende Verhandlungen fünf bis zehn Jahre.

Nun kommt das Problem des fehlenden persönlichen Kontakts hinzu. Zudem sprach Michel Barnier nach der ersten Gesprächsrunde von „ernsthaften Differenzen“ zwischen Brüssel und London. Wie sollen diese überbrückt werden bis Ende Juni? Der Antrag auf eine Verlängerung müsste bis dann gestellt werden. Die Bereiche, die eine Einigung erfordern, betreffen unter anderem Dienstleistungen, Handel, Energie, Transport und Fischerei. Aber der Punkt, der neben der Fischerei am strittigsten diskutiert wird, ist das Thema „level playing field“, also faire Regeln für den Wettbewerb. So sollen laut EU gleiche Bedingungen für die Wirtschaft auf beiden Seiten garantiert werden. Ohne Handelsvertrag drohen derweil ab Januar 2021 Zölle und Kontrollen – Unternehmen fürchten eine zusätzliche Belastung für das von der Corona-Krise ohnehin schwer getroffene Königreich.

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