Die EU kann nicht unbegrenzt weiterwachsen

Brüssel · Vor zehn Jahren, am 1. Mai 2004, wuchs die Europäische Union auf einen Schlag um zehn Länder: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn, Malta und Zypern.

Der Beitritt war die größte EU-Erweiterung aller Zeiten: der sogenannte "Big Bang". Heute besteht kein Zweifel: Die Osterweiterung ist eine Erfolgsgeschichte. Politisch muss die Wiedervereinigung des Kontinents als historische Errungenschaft gewertet werden. Für die Beitrittsländer nicht zuletzt auch mit Blick auf den derzeitigen Ukraine-Konflikt. Polens Regierungschef Donald Tusk bemerkte dazu: "Wenn wir heute daran denken, was unser östlicher Nachbar durchmacht, dann zeigt das, was für eine gute Wahl unser Beitritt zur EU war." Denn EU-Mitglieder anzugreifen, davor dürfte selbst ein Machtpolitiker wie Putin zurückschrecken.

Auch wirtschaftlich kann sich die Beitritts-Bilanz sehen lassen. Das Pro-Kopf-Einkommen in den acht osteuropäischen Mitgliedsstaaten liegt mittlerweile bei 61 Prozent des Niveaus der alten. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren war es nur 49 Prozent. Heute verdienen Polen und Slowaken im Durchschnitt doppelt so viel wie eine Dekade zuvor. .

Umgekehrt haben sich Ängste vor Horden von osteuropäischen Billigarbeitern in den alten EU-Staaten oder Massenverlagerungen von Jobs nach Polen und Co. als unbegründet erwiesen. Kurzum: Die Osterweiterung hat in der gesamten Gemeinschaft für zusätzliche Wachstumsimpulse und eine deutliche Wohlstandssteigerung gesorgt.

Doch sie hat auch Probleme aufgezeigt, denen sich die Gemeinschaft dringend stellen muss. Will Europa als handlungsfähiger Akteur auf der globalen Bühne mitmischen, kann die Union nicht unbegrenzt weiter wachsen. Schon 28 Mitgliedsstaaten sind kaum auf eine gemeinsame Stimme zu bringen. Die EU braucht Anbindungs-Alternativen unterhalb der Vollmitgliedschaft. Sie müssen attraktiv genug sein, um den Aspiranten wirksame Anreize für demokratische und marktwirtschaftliche Reformen zu geben. Gleichzeitig dürfen sie nicht volle Mitsprache in den Institutionen bedeuten. Denn dann vergrößert sich die EU irgendwann in die Bedeutungslosigkeit - weil sie handlungsunfähig wird. Ganz zu schweigen davon, dass Zahlerländer wie Deutschland nicht mitmachen werden, wenn etwa eines Tages ein Großteil ihres Beitragsgeldes für den Brüsseler Haushalt als Subvention an anatolische Bauern fließt statt in Innovation und Forschung in Berlin, Paris und anderswo.

Die Neuaufstellung der Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik muss einhergehen mit einer vernünftigen Russland-Strategie. Die EU hat offenkundig unterschätzt, wie ernst Wladimir Putin den Satz meinte, der Untergang der Sowjetunion sei die größte geostrategische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Er übernahm eine Nation, der - durch Gorbatschows und Jelzins Bereitschaft, den Status einer Weltmacht aufzugeben - eine gehörige Portion Selbstbewusstsein abhanden kam. Die EU muss sich vorwerfen lassen, die Wirkung des Näherrückens der westeuropäischen Demokratien an Russland falsch kalkuliert zu haben. Sie zahlt nun den Preis dafür - wie der Konflikt um die Zukunft der Ukraine zeigt. Zieht Europa keine Lehren daraus, wird Krieg in Europa wieder wahrscheinlicher. Das wäre ein verheerendes Ergebnis der Osterweiterung.

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