Gauck kuscht nicht
Dass Recep Erdogan das Wesen der Demokratie – gleichberechtigte Teilhabe aller an der politischen Willensbildung, Lösung gesellschaftlicher Konflikte durch Toleranz und Meinungsfreiheit – nicht verstanden hat, ist offensichtlich. Er sieht Wahlen als bloßes Machtinstrument und Macht wiederum als Legitimation zur unbeschränkten Durchsetzung eigener Ziele.
Darunter auch das Ziel der privaten Bereicherung. An diesem Punkt unterscheidet sich der türkische Ministerpräsident sogar negativ von Wladimir Putin. Ansonsten sind die Mechanismen die gleichen. Massive Repression nach innen, Beugung des Rechtsstaates, Homophobie, bei Erdogan auch noch religiöse Ideologisierung. Und wenn all das nichts nutzt, kann der starke Mann in Ankara genau wie der Russe noch auf die Mobilisierung nationaler Gefühle durch militärisches Herumgefuchtel setzen. Etwa gegenüber Zypern oder Griechenland. Und schon wäre auch diese Krise mitten in Europa angelangt, so wie die ukrainische. Die Gefahr besteht.
Der Besuch des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck bei diesem noch übenden zweiten großen Autokraten an der Peripherie der EU fiel in eine äußerst heikle Zeit. Die Türkei steht gerade am Scheideweg. Noch hat Erdogan den Machtkampf nicht ganz für sich entschieden. Die Zivilgesellschaft ist vor allem in den Städten noch sehr agil, der amtierende Präsident Abdullah Gül bietet ihm Paroli, und die dynamisch wachsende türkische Wirtschaft will global handeln und nicht auf Vorderasien zurückgeworfen werden.
Joachim Gauck hat sich schnörkellos auf die Seite der Demokratie gestellt, hat den Demokraten Mut gemacht. Er hat für sich als Demokrat das universelle Recht beansprucht, sich einzumischen, wenn der Rechtsstaat in Gefahr ist - auch wenn es nicht der Rechtsstaat des eigenen Landes ist. Das war ein kompromissloser Auftritt für Demokratie und Freiheit. Kein Kuschen vor Potentaten-Thronen.
Der Bundespräsident hat seine Rede vor Studenten in Ankara gehalten, also vor der Generation, die die Zukunft der Türkei darstellt. Er hat ihnen eine europäische Perspektive versprochen, wenn die Türkei einen demokratischen Weg geht. Das ist in der Tat der Traum vieler junger Türken. Für diese Generation freilich wäre es wichtig, wenn nicht nur das repräsentative deutsche Staatsoberhaupt den Beitrittsverhandlungen zur EU Ernsthaftigkeit und Erfolg wünschen würde, sondern auch die operativ verantwortliche Kanzlerin und ihre Partei. Doch dort will man die Türkei mit einer "privilegierten Partnerschaft" abspeisen und droht bei jeder Gelegenheit mit dem Stopp der Gespräche. Diese Doppelzüngigkeit nimmt den Appellen des Präsidenten bei den Adressaten ihre Kraft. Und das ist schade.