Deutschland und die Flüchtlingswellen

Berlin · Egal, ob es am Ende nun 650 000 oder 750 000 sein werden in diesem Jahr - die neue Flüchtlingszahl übertrifft alle bisherigen Rekorde. Jedenfalls, wenn man nur das Asyl betrachtet. Wo verlaufen die Grenzen der Aufnahmefähigkeit?



Sie waren in Deutschland schon immer sehr weit und sind heute, angesichts der boomenden Wirtschaft, noch weiter geworden. Die Bundesrepublik und die DDR haben nach dem Krieg zwölf Millionen Vertriebene aufgenommen. Allein die alten Länder haben bis zum Fall der Mauer außerdem rund 3,7 Millionen Flüchtlinge und Übersiedler aus der ehemaligen DDR integriert, dazu rund 4,4 Millionen Aussiedler aus Russland und anderen osteuropäischen Ländern. Auch Zahlen wie jetzt gab es durchaus schon mal: 1989 etwa, als die Deutschstämmigen und Übersiedler aus dem Osten und die Flüchtlinge aus der DDR erst die Züge und dann die Turnhallen fluteten. Oder 1993, als die Balkanflüchtlinge dazukamen.

Immer gab es Probleme, doch waren es Probleme des Übergangs und der praktischen Organisation. Nach ein paar Jahren, spätestens aber nach einer Generation waren sie weitgehend vergessen. Nicht von allein, Politik und Gesellschaft müssen schon etwas tun. Unter dem Strich aber hat das Land all diese Wanderungswellen weggesteckt, schlichtweg absorbiert. Obwohl die normale Migration ja noch obendrauf kam.

Das Problem ist also die Aufnahmebereitschaft. Die Aufnahmefähigkeit war es in Deutschland bisher noch nie. Natürlich, die DDR-Flüchtlinge haben sich für die westdeutsche Gesellschaft anders "angefühlt" als Syrer oder Kosovaren. Sie waren Landsleute, sie teilten Sprache und Kultur. Aber mit Wohnungen und Arbeitsplätzen versorgt werden mussten auch sie, Konkurrenzgefühle und Ablehnung blieben auch ihnen gegenüber nicht aus. Noch mehr galt das für Aussiedler. Gerade in Ostdeutschland sollte mancher, der heute mit Pegida demonstriert, sich mal daran erinnern, dass er selbst oder seine Mitbürger vor etwas über 25 Jahren in derselben Situation war wie die Flüchtlinge heute.

Auch unter den jetzt ankommenden Kriegsflüchtlingen sind viele, die ausgesprochen leistungswillig sind. Sie haben ihre manchmal jahrelange, todesmutige Flucht nicht für Hartz IV begonnen. Und die Unternehmen lechzen förmlich nach personellem Nachschub. Auch wenn die Wirtschaftsflüchtlinge vom Balkan nicht zurückgeschickt würden, wie man jetzt plant, könnte das Land die Zuwanderung verkraften. Entscheidend ist nur, dass die Betreuung der Menschen tatkräftig organisiert wird, über die erste Hilfe hinaus. Sprachunterricht, Ausbildung, Arbeitsvermittlung, Integration. Die neue Rekordzahl bedeutet daher vor allem, dass ein Flüchtlingsgipfel außerordentlich dringlich ist und praktische Beschlüsse fassen muss, statt die Probleme nur hin und her zu schieben.

Unter dem Strich hat die Migration Deutschland massiv genutzt, auch die ungesteuerte über das Asyl . Sie hat der Wirtschaft einen stetigen Strom von Arbeitskräften geliefert. Sie hat das Land jünger gehalten, als es sonst wäre. Dank der Aussiedler, Migranten und Flüchtlinge hat Deutschland zudem starke Brücken nach Polen, in den Balkan, in die Türkei und nach Russland. Syrien wird jetzt neu dazukommen. Die Neuankömmlinge haben Deutschland weltoffen gemacht.

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