Wie sich der lange schwelende Krach mit Bonn entlädt
Theo Waigel, der Bundesfinanzminister, war gestern in der Stadt und hat gesagt: "Berlin ist nicht überproportional belastet." Es gebe kein zusätzliches Geld vom Bund für die Flüchtlinge. Wir sind empört. Jetzt machen wir den schon länger schwelenden Krach mit Bonn öffentlich. Seit Jahresbeginn sind 26 000 Übersiedler aus der DDR und 11 000 Aussiedler nach Berlin gekommen
Theo Waigel, der Bundesfinanzminister, war gestern in der Stadt und hat gesagt: "Berlin ist nicht überproportional belastet." Es gebe kein zusätzliches Geld vom Bund für die Flüchtlinge. Wir sind empört. Jetzt machen wir den schon länger schwelenden Krach mit Bonn öffentlich. Seit Jahresbeginn sind 26 000 Übersiedler aus der DDR und 11 000 Aussiedler nach Berlin gekommen. Die meisten logieren in Notlagern. Viele Turnhallen sind blockiert. Auch das Messegelände, wo bald die Vorbereitungen für die Grüne Woche beginnen sollen, wird schon zweckentfremdet. Seit die Ausreise über die Tschechoslowakei möglich ist, kommen täglich 500 Menschen aus der DDR dazu. West-Berlin läuft über.
Es geht uns bei dem Streit mit der Bundesregierung, der auch die Tage während der Maueröffnung prägen wird, nicht nur um mehr Geld für die Bewältigung der Situation. Wir fühlen uns in Berlin seit Wochen von Bonn schlichtweg im Stich gelassen. So ist der Vorschlag des Senats, das Begrüßungsgeld für DDR-Touristen, 100 Mark, im Falle der Reisefreiheit direkt in der DDR durch die dortige Staatsbank auszuzahlen, bisher noch nicht einmal beantwortet worden. Nur mündlich haben wir die Auskunft bekommen, dass diese Auszahlung ein "hoheitlicher Akt" der Bundesrepublik Deutschland sei, und deshalb nicht an die DDR abgegeben werden dürfe. Die Stelle des Bundesbevollmächtigten in Berlin ist seit Monaten vakant, so dass uns unser wichtigster Ansprechpartner des Bundes fehlt. In dieser Situation schreibt der Regierende Bürgermeister Walter Momper einen direkten Brief an Kanzler Helmut Kohl, der das Verhältnis für lange Zeit vergiften wird. Er beginnt mit der süffisanten Formulierung: "Hiermit erlaube ich mir, Ihre besondere Aufmerksamkeit auf die Entwicklungen zu lenken, die der Veränderungsprozess in der DDR in diesem Teil Berlins hervorrufen dürfte." Und endet mit dem drohenden Hinweis, die alliierten Stadtkommandanten hätten ihm, Walter Momper, "zu erkennen gegeben, dass sie sich darauf vorbereiten, die Bundesregierung bald an ihre Verpflichtungen aus der Erklärung über Hilfeleistungen für Berlin, die seit dem 5. Mai 1955 gilt, zu erinnern".
Ich informiere die Presse darüber, dass morgen die zweite Sitzung der Senats-Arbeitsgruppe stattfindet, die Berlin auf die neue Reisefreiheit vorbereitet. "So soll der Ansturm von drüben bewältigt werden" titelt dazu am Mittwoch die "Berliner Morgenpost". Bei dieser zweiten Sitzung der Arbeitsgruppe werden Zwischenberichte der beteiligten Verwaltungen über ihre Vorbereitungen aufgerufen. 20 Beamte nehmen teil. Alles ist im Plan. Neu ist die Idee, dass die Berliner Sparkassen und Banken das Begrüßungsgeld für den Senat treuhänderisch auszahlen könnten, wenn Bonn den Weg einer direkten Auszahlung in der DDR blockieren sollte. So hätten wir hunderte Zahlstellen statt bloß zwölf Bezirksrathäuser. Es wird beschlossen, darüber noch am Donnerstag Gespräche mit den Finanzinstituten zu führen. In der DDR tritt der Ministerrat nach dem gescheiterten ersten Reisegesetz an diesem Dienstag geschlossen zurück und amtiert nur noch kommissarisch weiter. Das Land ist nun fast führungslos.