Zuerst kommt die Gier – und dann lange nichts

Peking · Die Katastrophe in der chinesischen Hafenstadt Tianjin zeigt zwei Grundprobleme der chinesischen Entwicklung: einen Mangel an wirksamer Aufsicht und die Folgen des extrem schnellen Wachstums. Präsident Xi Jinping verspricht zwar schon seit seinem Amtsantritt Abhilfe an beiden Fronten: Er will Korruption bekämpfen und die Entwicklung nachhaltiger machen.

Doch der Anspruch seiner Partei auf Alleinherrschaft blockiert an vielen Stellen den Fortschritt. Das heißt nicht, dass die Kommunistische Partei an der Explosion schuld ist - es geht vielmehr um eine Strukturfrage.

China, die zweitgrößte Volkswirtschaft, braucht ein neues Sicherheitsverständnis. Dort stehen mehr Chemiewerke und Raffinerien als in jedem anderen Land. Dutzende Kernkraftwerke sind im Bau, am Jahresende steht Peking auf Platz vier der zivilen Atommächte . In China hat alles kaum fassbare Maßstäbe: Mehrere hundert Tonnen Blausäure-Verbindungen lagerten in einer Stadt mit 14 Millionen Einwohnern, die Detonation glich äußerlich einer Kernexplosion.

Hauptursache des Unglücks war die Missachtung von Regeln. Dabei sind die Vorschriften selbst meist sinnvoll, die Umweltschutzbestimmungen beispielsweise haben zum Teil europäische Vorbilder. Doch weil die Gesetze noch jung sind und im Pekinger Elfenbeinturm geschrieben wurden, haben sie oft nur wenig mit der Wirklichkeit im Land zu tun. Da ist zum Beispiel das Arbeitsrecht, das sich in seinen Grundzügen nicht von den Vorlagen aus Deutschland oder Schweden unterscheidet - in der Provinz ist es oft pure Theorie. Die Verkehrsregeln ähneln der deutschen Straßenverkehrsordnung, dennoch gilt auf Chinas Straßen schlicht das Recht des Stärkeren.

Die Kommunistische Partei betont Ordnung und Disziplin, verspricht den Bürgern höchste Standards. Tatsächlich aber hält sie die Gesellschaft mit einem gigantischen Polizeiapparat unter Kontrolle. Ähnlich sieht es in der Wirtschaft aus, der Klüngel mit den Behörden funktioniert reibungslos. Wenn also die Hafenaufsicht und der Chemiehändler unter einer Decke stecken, um Blausäure billig zu lagern, kann der aufmerksame Bürger oder ein unzufriedener Mitarbeiter kaum etwas ausrichten. Der Rest ist eine Mentalitätsfrage: Gewinn kommt vor Moral, in China noch eindeutiger als in anderen Gesellschaften. Babymilch-Hersteller streckten ihre Produkte mit giftigem Eiweiß-Ersatz - da passt ein Lagerhausbetreiber, der brennbare Chemikalien ohne besondere Absicherung im Hafen abstellt, genau ins Bild.

Präsident Xi ist mit seinen Kernprojekten offenbar noch nicht weit gekommen. Er hat das Problem der fehlenden Moral und der Gier in seiner Gesellschaft zwar erkannt und will mit einer Propaganda-Kampagne für eine "Gesellschaft mit sozialistischen Werten" gegensteuern. Kritiker sagen jedoch, dass es gerade der Sozialismus in Ausprägung der Kulturrevolution war, der China jede Grundlage für Moral genommen hat. Ähnlich verhält es sich mit der Korruptionsbekämpfung. Die meisten Beamten trauen sich zwar nicht mehr, die Hand aufzuhalten. Aber nicht aus Überzeugung, sondern aus Angst vor Strafe. An alldem wird sich kurzfristig freilich wenig ändern lassen. Doch eine freie Presse und eine offene Gesellschaft mit echtem Rechtfertigungsdruck für die regierende Partei könnten über die Zeit schon viel bewirken.

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