Der Staat als Steuersünder

Beim privaten Steuerfall Hoeneß hat sich der deutsche Michel weit aus dem Fenster gelehnt. In Leserbriefen und sozialen Netzwerken gab er seiner Empörung über die Steuerhinterziehung des Multimillionärs lautstark Ausdruck.

Das ist bemerkenswert, zumal eine stattliche Anzahl deutscher Kleinverdiener gerne mal einen Handwerker "schwarz" bezahlt, ohne dass sich ein schlechtes Gewissen regen würde. Noch interessanter aber ist, wenn klaglos hingenommen wird, dass der Staat selbst als Steuersünder auftritt - und seinen Bürgern ungeniert Einkommen "hinterzieht", wo er es gar nicht dürfte.

Es geht um die "kalte Progression". Es fröstelt einen bei diesem Begriff, der Politikern nur selten über die Lippen kommt, weil dort sehr wohl ein schlechtes Gewissen deutlich wird. Denn obwohl die Problematik dieses Steuer-Phänomens nirgendwo geleugnet wird, stellt sich die Politik seit vielen Jahren taub und weist (wie jetzt Bundesfinanzminister Schäuble) nur lapidar darauf hin, "leider" bestehe finanzpolitisch "kein Spielraum", um die kalte Progression abzuschaffen.

Das System bewirkt, dass sauer verdiente Lohnerhöhungen zu einem erklecklichen Teil vom Fiskus abgeschöpft werden. Durch den linearen Tarif steigt der Steuersatz kontinuierlich, der Bürger wird geschröpft, auch wenn die Lohnanpassung nur die Inflation ausgleicht. Die Mechanik dieses Inkassos geht soweit, dass über 50 Prozent der erzielten Einkommensverbesserungen nicht auf den Konten der fleißigen Bürger landen, sondern in den Kassen der Finanzminister aus Bund und Ländern. In diesem Jahr sind es 770 Millionen Euro, im nächsten Jahr bereits 3,2 Milliarden, bis 2018 summiert sich die Summe auf 28 Milliarden Euro. Politisch brisant wird der Sachverhalt auch durch den Umstand, dass die Zusatzbelastung ausgerechnet bei den unteren und mittleren Einkommensgruppen relativ am höchsten ist. Das ist auch volkswirtschaftlich ein fragwürdiger Effekt, weil so Kaufkraft verloren geht.

Die kalte Progression ist schon deshalb ein steuerpolitischer Sündenfall, weil sie das Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit verletzt. Erstaunlich, dass sich niemand ernsthaft dagegen auflehnt. Lösungsansätze sind vorhanden, etwa die automatische Anpassung des Steuertarifs. Es ist jedenfalls unlauter, das (lobenswerte) Ziel eines ausgeglichenen Haushalts auf Kosten der Leistungsträger erreichen zu wollen. Wer Steuerausfälle fürchtet und diese vermeiden will, darf eine vernünftige und vereinfachende Steuerreform nicht zum Tabu erklären. Er kann auch darauf hinweisen, dass Wirtschaft und Gesellschaft zu den oft verklärten Zeiten des Kanzlers Helmut Kohl einen höheren Spitzensteuersatz durchaus für vertretbar hielten.

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