Heiße Debatte um kalte Progression

Berlin · Der Abbau heimlicher Steuererhöhungen steht für die Koalition weiter auf der Tagesordnung, aber nicht jetzt und auch nicht an erster Stelle. Offen bleibt, wie die Ausfälle für den Staat kompensiert werden.

Die Diskussion um mögliche Steuerentlastungen wird immer verwirrender: Während Teile des CDU-Bundesvorstands bereits an einem entsprechenden Konzept feilen und auch die SPD Einlenken signalisierte, traten CSU-Chef Horst Seehofer und der Vorsitzende der Unionsfraktion, Volker Kauder, gestern auf die Bremse: Priorität habe ein schuldenfreier Bundeshaushalt, meinte Seehofer. Und Kauder verlangte, "die ganze Diskussion um die so genannte kalte Progression einzustellen". Eine gestern bekannt gewordene Prognose über deutliche Steuermehreinnahmen dürfte die Debatte weiter anheizen.

Die "kalte Progression" ist ein sperriger Begriff, ein technokratisches Konstrukt. Doch über seine praktischen Auswirkungen haben sich viele Beschäftigte garantiert schon öfter geärgert. Die Tatsache nämlich, dass von einer Lohn- und Gehaltserhöhung am Ende herzlich wenig übrig bleibt. Möglich wird das durch den geltenden Einkommensteuertarif. Der ist so aufgebaut, dass ein Lohnzuwachs automatisch zu einer höheren Steuerbelastung führt. Dies gilt allerdings selbst dann, wenn eine Lohnerhöhung so ausfällt, dass sie lediglich die Teuerungsrate ausgleicht. Folge: Trotz nominal mehr Geld sinkt das reale Einkommen und damit die individuelle Kaufkraft. Kritiker sprechen deshalb von einer "schleichenden Enteignung" der Beschäftigten.

Die SPD hat dieses Problem lange Zeit ignoriert. Später erklärte man sich nur zu einer Lösung bereit, wenn im Gegenzug der Spitzensteuersatz angehoben würde. Doch das war mit der Union nicht zu machen. Zumindest an dieser Stelle ist nun Bewegung in die Fronten gekommen. SPD-Chef Sigmar Gabriel zeigte sich gestern aufgeschlossen für eine Neuregelung noch in dieser Wahlperiode - und zwar ohne Steueranhebungen oder Sozialkürzungen. Das müsse "aufgrund der hohen Steuereinnahmen" möglich sein, sagte er. Als Kompensation brachte Gabriel den Abbau von Steuervergünstigungen ins Spiel, was aber der CSU ein Dorn im Auge ist.

Gabriels Befund wurde gestern auch durch eine Prognose des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie- und Konjunkturforschung (IMK) gestützt: Demnach erwarten die Experten für das kommende Jahr 9,1 Milliarden Euro mehr an Steuereinnahmen, als vom Schätzerkreis beim Bundesfinanzministerium noch Ende 2013 angenommen. Im Jahr 2018 könnten es sogar 14,6 Milliarden zusätzlich sein. Trotzdem hält auch IMK-Chef Horn eine Gegenfinanzierung zum Abbau der "kalten Progression" für unerlässlich. Angesichts des großen Investitionsdefizits seien Steuersenkungen ohne Ausgleich fehl am Platze, sagte er unserer Zeitung. Für Unionsfraktionschef Volker Kauder sind Steuersenkungen allenfalls Zukunftsmusik. Spielräume dafür könnten sich "2015, 2016" auftun, meinte der CDU-Politiker. Vor diesem Hintergrund dürfte er wohl wenig glücklich über das Vorpreschen einiger Vorstandmitglieder gewesen sein, die bereits ein Konzept zum Abbau der "kalten Progression" entwickeln.

Dass der Staat den großen Samariter gibt, ist aber ohnehin nicht zu erwarten. Dafür steht einfach zu viel auf dem Spiel. Nach Angaben des Bundes der Steuerzahler spült der Effekt der "kalten Progression" allein in den Jahren 2014 bis 2017 insgesamt 55,8 Milliarden Euro in die Kassen. Und davon profitiert nicht nur der Bund, sondern auch die Länder.

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HintergrundDie Steuereinnahmen des Staates werden angesichts der guten Konjunktur aus Sicht des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) bis zum Jahr 2018 auf gut 746 Milliarden Euro steigen. Das wären rund 104 Milliarden mehr für Bund, Länder und Kommunen als in diesem Jahr erwartet, teilte das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung gestern mit. Trotz dieser positiven Entwicklung gebe es für Steuersenkungen, die nicht gegenfinanziert sind, keine Spielräume, so das Institut. dpa

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