Leitartikel Nach dem Brexit ist vor dem Brexit

Großbritannien befindet sich nur wenige Tage von jenem historischen Datum entfernt, mit dem die 47-jährige Mitgliedschaft des Königreichs in der EU endet. Doch Müdigkeit hat sich über das Land gelegt, vielerorts spürt man beinahe die Erleichterung über die Brexit-Ruhe nach den vergangenen dreieinhalb Jahren, den Streitereien, dem Gezeter, den Machtspielchen und nicht zuletzt diesen unzähligen Dramen, die die Politik dominiert haben.

 Katrin Pribyl

Katrin Pribyl

Foto: SZ/Robby Lorenz

Das alles hat Spuren hinterlassen. Die Gesellschaft ist zutiefst gespalten, die Zukunft ungewiss. Bis die Wunden der Nation geheilt sind, dürfte viel Zeit vergehen, vielleicht führen sie gar zu einem Zerfall des Vereinigten Königreichs. Premierminister Boris Johnson verspricht, die Spaltung zu überwinden, auch deshalb wird es in der Nacht zu Freitag keine von der Regierung orchestrierten Brexit-Triumphzüge durch die Hauptstadt geben.

Es bleibt natürlich ohne Zweifel das Märchen des Jahres, dass der Brexit mit dem 31. Januar vom Tisch ist. Dieser Tag markiert nur das Ende des Beginns. Der Brexit ist keineswegs „ofenfertig“, wie Johnson versprochen hat. Geht es nach dem Willen des konservativen Regierungschefs soll der EU-Austritt nicht mehr groß auf der Agenda stehen. Dabei endet am 31. Januar lediglich die erste Phase. Bis auf die Tatsache, dass Artikel 50 nicht mehr zurückgezogen und damit der Brexit nicht mehr abgewendet werden kann, wird sich zunächst überhaupt nichts ändern. Wenn die Übergangsperiode am 1. Februar beginnt, dann gelten auf der Insel dieselben Standards und Regelungen wie bisher. Doch die nächste Verhandlungsrunde ist eröffnet. Diese Gespräche über das künftige Verhältnis zwischen der EU und dem Königreich dürften sich weitaus komplizierter und schwieriger gestalten als jene über den Austritt – und die Zeit drängt sogar mehr als in Phase eins.

Der Premier will ein Abkommen bis Ende 2020 erreichen, eine Verlängerung der Übergangsphase hat Johnson ausgeschlossen. Was aber, wenn bis dahin keine Vereinbarung vorliegt? Abermals droht der Absturz in die No-Deal-Katastrophe. Niemand weiß, was passieren wird. Sollte Johnson am Ende doch die Kehrtwende einleiten und ein enges Verhältnis mit der EU anstreben? Es ist keineswegs ausgeschlossen. Johnsons politischer Kompass richtet sich stets nach den aktuellen Umfragewerten.

Nur wäre es zu hoffen, dass sich zumindest der Umgang mit der Herausforderung Brexit weiterentwickelt, dass sowohl Gewinner als auch Verlierer dieser jahrelang bitter geführten Schlacht ihre Gefühle von Genugtuung beziehungsweise Wut beiseitelegen und zusammenfinden. Denn bevor Verhandlungen über die Beziehungen zwischen London und Brüssel vernünftig geführt werden können, muss sich Großbritannien endlich entscheiden, welches Land es künftig sein will, in wirtschaftlicher, politischer, in gesellschaftlicher Hinsicht. Diese Frage aber sollte nicht nur von den vermeintlichen Siegern auf Seiten der Europaskeptiker, sondern vom ganzen Land beantwortet werden.

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