Lesungen „Ausfahrt freihalten“ kommt nach „Freiheit aushalten“

Saarbrücken · Fraglos ein Höhepunkt der saarländischen Literaturtage: Heute liest María Cecilia Barbetta aus ihrem überschäumenden Roman „Nachtleuchten“.

 María Cecilia Barbetta, 1972 in Buenos Aires geboren und seit 1996 in Berlin lebend.

María Cecilia Barbetta, 1972 in Buenos Aires geboren und seit 1996 in Berlin lebend.

Foto: Markus Höhn

Es dürfte eine der schönsten Lesungen der 2. saarländischen Literaturtage werden. María Cecilia Barbettas Roman „Nachtleuchten“, im Vorjahr aus guten Gründen auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis gelandet, ist von solch überschäumender, höchst origineller Erzähllust, dass es das reinste Vergnügen sein dürfte, von ihr heute in Illingen einige Kapitel daraus vorgelesen zu bekommen. Wobei es das vielleicht größte Wunder dieses Romans ist, dass eine Argentinierin – selbst wenn sie seit mehr als 20 Jahren in Berlin lebt und schon als Kind in Buenos Aires in eine deutsche Schule ging – ein derart fein ziseliertes, ungemein sprachmächtiges Deutsch spielend beherrscht, um das sie jeder Muttersprachler nur beneiden kann.

In ihrem zweiten Roman breitet Barbetta – für ihr 2008 erschienenes Debüt „Änderungsschneiderei Los Milagros“ erhielt sie sogleich den Aspekte-Literaturpreis – ein vielschichtiges Panorama Argentiniens am Vorabend des in eine blutige Militärdiktatur abdriftenden Peronismus der 70er Jahre aus. Angesiedelt in Buenos Aires’ damaligem Stadtrandviertel Ballester, gelingt der 47-Jährigen mit „Nachtleuchten“ ein sprachartistischer Roman par excellence, der die gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen Argentiniens in den Jahren 1974 bis 1976 mit großen erzählerischem Atem und unerhörtem Einfallsreichtum skizziert. Zu den zündenden Grundideen ihres streng arithmetisch gebauten Romans (seine drei Teile bestehen jeweils aus 33 Kapiteln, denen als 100. ein Epilog folgt) gehört das Weiterreichen der titelgebenden, phosphorizierend leuchtenden Plastik-Madonna durch die elfjährige Klosterschülerin Teresa Gianelli: In jedem Haushalt, in dem sie die Replik der argentinischen Schutzpatronin „Virgen de Luján“ eine Woche lang als „Wandermuttergottes“ abstellt, geschehen wunderliche Dinge, die der aufkommenden katholischen Befreiungstheologie auf die Sprünge helfen. Teresas Plastik-Heiligtum bringt das Geheimnis unters Volk, „dass wir, indem wir das Gute teilen, das wir besitzen, es maximieren“, heißt es einmal.

Barbettas sagenhaften Sprachwitz verströmender Roman (aus „Ausfahrt freihalten“ wird da etwa schnell mal „Freiheit aushalten“) ist dabei mit derart vielen, liebevoll charakterisierten Figuren bevölkert, dass man zwar leicht den Überblick verliert. Doch tauchen sie, fest verankert auf ihrem hochtourig drehenden Bilderkarussel, alle immer wieder auf, sodass man nach und nach mit ihnen vertraut wird. Vom Automechaniker Julio El Haddad und seinem dichtenden Angestellten Nasif Abdala über den Friseur Celio Rachello, den Kioskverkäufer Valentino Acuña und den Wäschereibesitzer Ricardo Peralta (viele davon Nachfahren europäischer und arabischer Auswanderer) bis hin zu der mopedfahrenden und auch ansonsten äußerst progressiven Nonne María und ihrem Gefährten, dem rührigen Befreiungstheologen Gustavo. Kreist Teil eins vornehmlich um die Nöte und Phantasien der In- und Externen der Klosterschule, entfaltet der folgende mittels der Schraubertruppe der Autowerkstatt „Autopia“ das Leben derer, „denen nichts in die Wiege gelegt worden war und die sich deshalb erfinden mussten“, während der dritte, am ehesten zu zerfasern drohende Romanteil mit der „wissenschaftlichen Schule Basilio“ dann das Tor sperrangelweit in spiritistische Gefilde öffnet.

Man mag zwar einwenden, dass Barbetta ihrer abenteuerlichen Fabulierlust mitunter zu wenig Zügel anlegt – aufs Ganze gesehen aber war dieser fabulöse Roman wohl nur um diesen Preis so zu haben. Sprich mit dieser geballten Ladung Situationskomik & Salto mortale, Sentiment & Silberstreifen (am gehörig verdüsterten Horizont). Jedenfalls liest man diesen ebenso turbulenten wie erfrischenden Roman nicht zuletzt dank Barbettas stilistischer Brillanz und sprühender Lebenslust mit dem größten Vergnügen. Dass dies heute Abend in Illingen nachvollziehbar wird, daran besteht kein Zweifel.

María Cecilia Barbetta: Nachtleuchten. S. Fischer, 517 S., 24 €.
Lesung heute (19.30 Uhr) im Rathaussaal Illingen (Hauptstr. 86). Eintritt: 9 €

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