Gregg Arakis „Mysterious Skin“ auf Bluray Das Leben der Verletzten

Saarbrücken · Man kann es ja nicht oft genug sagen: Hut ab vor den kleinen, ambitionierten Heimkino-Firmen, die rare Kinoperlen veröffentlichen und mit wirklich wertvollem Bonusmaterial veredeln, auf dass man sich im Film versenken kann.

 George Webster als achtjähriger Brian.

George Webster als achtjähriger Brian.

Foto: Camera Obscura

Streaming-Anbieter bieten das nicht, bei Netflix etwa muss man schon per Fernbedienung am Filmende flott bestätigen, dass man tatsächlich noch den Abspann sehen will. Die großen DVD-Firmen haben an cinephilen Ausgaben auch nur noch selten Interesse, schwindet doch angesichts des Streamings die Bedeutung von DVD/Blu-ray, den sogenannten physischen Datenträgern. Da reicht es oft nur noch zu lieblosen Interview-Werbeschnipseln der Beteiligten.

„Bildstörung“ etwa gehört zu diesen Filmerbe-Pflegern und auch „Camera Obscura“: Die Firma veröffentlichte zuletzt unter anderem hervorragende Editionen zum US-Independent-Film „Das Messer am Ufer“ und zum französischen Zeichentrick-Klassiker „Der wilde Planet“. Nun erscheint ist ein Meisterwerk des US-Kinos erschienen, ein Film, den man nicht vergisst: „Mysterious Skin“, 2004 inszeniert von Gregg Araki nach der Romanvorlage „Unsichtbare Narben“ von Scott Heim. Es ist ein Film der Extreme – mal todtraurig, mal überraschend witzig, mal von enormer Zärtlichkeit, mal von erschreckender Brutalität. Um zwei achtjährige Jungen in einer Baseballmannschaft im US-Hinterland der 1980er Jahre geht es – beide werden von ihrem Trainer sexuell missbraucht, jeder Junge versucht auf seine Weise, damit zu leben. Den Eltern offenbart sich keiner der beiden. Der junge Brian verdrängt den Missbrauch so gut es geht, leidet an Ohnmachtsanfällen und Gedächtnisstörungen, bis er dafür eine für ihn schlüssige Erklärung (er)findet: Kann es sein, mutmaßt er, dass Außerirdische ihn entführt haben, um an seinem Körper zu experimentieren? Der missbrauchte (und homosexuelle) Neil findet eine andere aus der Seelennot geborene Taktik der Bewältigung: Er flüchtet sich in eine imaginierte Romanze mit dem Trainer, in den er sich vor dem Missbrauch verliebt hatte, und deutet jede Missbrauchshandlung um zu einem Liebesbeweis.

Der Film, der den Missbrauch nicht explizit zeigt, zeichnet die Figur des Täters nicht als rohes Monster, sondern als noch Schlimmeres: Der Trainer, der ein bisschen ausschaut wie ein junger Robert Redford, „all american“ und mit maskulinem Schnauzbart, erschleicht sich das Zutrauen der beiden Jungen mit endlosen Süßigkeiten, mit Computer-Spielen am TV, er präsentiert sich wie ein Freund, wie ein Spielkamerad auf Augenhöhe. Diese Szenen sind schwer zu ertragen.

 Chase Ellister als achtjähriger Neil.

Chase Ellister als achtjähriger Neil.

Foto: Camera Obscura

„Mysterious Skin“ springt dann einige Jahre nach vorne, die beiden Opfer werden nun von jungen Männern gespielt (Joseph Gordon-Levitt und Brady Corbet). Brian ist ein in sich gekehrter Teenager, mit wenigen Freunden, aber mit Kontakt zu einer jungen Frau, die ebenfalls glaubt, von Aliens entführt worden zu sein. Neil verdingt sich derweil als Stricher und ist innerlich erkaltet. „Wo andere ein Herz haben, hat er ein großes schwarzes Loch“, sagt sein bester Freund. Neil verlässt die Provinz, geht nach New York und erlebt Gewalt bis hin zur Vergewaltigung. Zuhause im Hinterland begegnen sich die beiden Leidensgenossen zum ersten Mal seit dem Missbrauch – die Chance einer Bewältigung der Erlebten?

Tief berührend und oft erschütternd ist dieser Film, der von Freundschaft und Traumata erzählt. Erstaunlich, wie Regisseur Araki hier die verschiedenen Stimmungen zwischen Melancholie und vagem Optimismus, Verzweiflung und Aufbruchstimmung, die Situationen zwischen Zärtlichkeit und Gewalt ohne filmische Brüche miteinander verbindet. Vieles ist hier zum Fürchten, manches zum Heulen: Die Nacht des Strichers etwa bei einem Kunden in New York, der keinen Sex will, sondern nur eine Massage des Rückens – er leidet an Aids, und niemand will ihn mehr anfassen.

 Bill Sage als Baseballtrainer, der seine jungen Schützlinge missbraucht.

Bill Sage als Baseballtrainer, der seine jungen Schützlinge missbraucht.

Foto: Camera Obscura

Arakis Schauspielerführung ist meisterhaft, nicht zuletzt bei seinen jungen Darstellern. Im Bonusmaterial, darunter einige Interviews und Audiokommentare, erklärt er, wie er die zurückhaltend inszenierten Missbrauchsszenen drehte, ohne die Kinder zu verstören: Sie kannten nicht das gesamte Drehbuch, die Eltern waren vor Ort, und die entscheidenden Einstellungen mit ihnen entstanden ohne den Darsteller des Täters – erst die kunstvolle Montage führt das alles zusammen zu einem Film, der lange nachhallt.

Das Bonusmaterial bietet neben Trailern, einem Audiokommentar und einem exzellenten Essay von Sofia Glasl im Booklet auch ein langes Interview mit Araki und mit Schriftsteller Scott Heim, der von einer engen Zusammenarbeit mit dem Regisseur erzählt. Auch eine einstündige Lesung aus dem Buch mit den Darstellern Gordon-Levitt und Corbet gibt es; ein Interview mit den beiden ist ebenfalls aufschlussreich – für beide war „Mysterious Skin“ ein Wendepunkt: Gordon-Levitt, der seine Schauspielkarriere schon im Alter von sechs Jahren begonnen hatte, war zuvor vor allem bekannt für seine Teenie-Rolle in der Sitcom „Hinterm Mond gleich links“ (1996-2001). Mit Arakis Film führt er seine Karriere in eine andere Richtung; es folgten unter anderem „Inception“ von Christopher Nolan, „Lincoln“ von Steven Spielberg und das eigene Regie-Debüt mit „Don Jon“. Corbet hatte vor „Mysterious Skin“ gerade das desaströse Spektakel „Thunderbirds“ gedreht, dessen Titel er im Interview nicht einmal nennen will. Nach „Mysterious Skin“ folgten Filme mit Michael Haneke („Funny Games US“), Lars von Trier („Melancholia“) und Ruben Östlund („Höhere Gewalt“). Als Regisseur drehte er bisher die Filme „Childhood of a Leader“ und „Vox Lux“ – beide mit Musik von Scott Walker.

Gregg Arakis Film mit viel Bonusmaterial
Foto: Camera Obscura
 Joseph Gordon-Levitt als Neil.

Joseph Gordon-Levitt als Neil.

Foto: Camera Obscura

Erschienen bei Camera Obscura.

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