„Dem Leben sind wir egal“

Saarbrücken · Ende Juni hat die Berliner Schriftstellerin Jenny Erpenbeck die traditionelle Rede an die saarländischen Abiturienten gehalten. Die Rede erscheint nun als Buch beim Conte Verlag. Was rät Erpenbeck den jungen Saarländern?

 Schriftstellerin Jenny Erpenbeck. Foto: Becker & Bredel

Schriftstellerin Jenny Erpenbeck. Foto: Becker & Bredel

Foto: Becker & Bredel

Nun, vom Titel sollte man sich nicht abschrecken lassen. "Sich ganz weit verirren. Sich vom Verirren verirren" klingt wie ein Büchlein aus dem Esoterikladen mit Duftkerzenaroma. Aber am Ende des Buchs, das ihre Rede vor saarländischen Abiturienten umfasst, erklärt Jenny Erpenbeck den Titel. Ihr elfjähriger Sohn habe sie gefragt, ob man nicht, wenn man sich verirrt hat und dann noch einmal verirrt, wieder "beim Richtigen" ankomme? Da hat er wohl recht, denkt Erpenbeck - aber was ist "das Richtige" nun? Ist ein Umweg ein Umweg? Oder dann doch die richtige Richtung? Erpenbeck will sich nicht festlegen, erfreulicherweise, ist die Idee der kreativen Lebens-Umwege doch auch schon ein Klischee für sich. Es gebe eben "keinen Vergleich, kein Messinstrument, kein Sicherungsnetz" für das, was nun kommt.

"Dem Leben sind wir egal, und gerade darin besteht unsere Chance." Jede und jeder kann und muss nun selbst herausfinden, was unter Glück im Leben zu verstehen ist, sagt Erpenbeck und schmückt das mit einem leichten akademischen Dünkel aus: Ein Forscher, der in einem erstklassigen Journal einen Artikel veröffentliche, müsse nicht glücklicher sein "als ein Bauarbeiter, der eine schöne Freundin hat".

Da liest sich die Rede etwas banal. Stärker wird sie, wenn Erpenbeck eigene familiäre Erfahrungen heranzieht, um die Wege, Umwege und deren Bedeutung für Lebensläufe zu illustrieren: Erpenbecks Mutter flüchtete aus ihrer Heimat im heutigen Polen und war letztlich froh darüber, eine "Heimatvertriebene" zu sein, denn: "Was wäre in diesem Kaff aus uns geworden?"

Statt Ratschlägen will Erpenbeck lieber ein gewisses Maß an Demut vermitteln, denn so unübersichtlich die plötzliche Freiheit ist, "die ganz eigenen Fehler zu machen", so beschützt ist sie hierzulande auch. Mit dem Abitur habe man "bessere Chancen als 98 Prozent der Menschheit". Bessere etwa als die der Flüchtlinge aus Mali oder Afghanistan, die "in denselben Städten leben wie wir", allerdings in Zelten, "stinkenden Notquartieren" und im Asylbewerberheim. Das potenziell "gute Leben", das den Abiturienten bevorstehe, beruhe zum Teil "auf Ihrem unverdienten Glück, unverschämten Glück. Zufall." Daraus ergebe sich eine Verpflichtung: Man müsse sich der Welt aussetzen, besonders dort, "wo diese Welt nicht hell ist, sondern verzweifelt, verrottet, verstörend". Denn "da fängt die Wirklichkeit doch erst an".

Will man Erpenbecks Text auf eine These eindampfen, dann vielleicht die, dass man kaum Ratschläge geben kann; denn die Welt unternimmt "komplexe Bewegungen", die man aushalten muss, "ohne die Illusion eines Weges zu haben". Das klingt ein wenig nach "Ich weiß, dass ich nichts weiß". Aber so ist das Leben eben.

Jenny Erpenbeck : Sich ganz weit verirren. Sich vom Verirren verirren. Conte Verlag,

67 Seiten, 9 Euro.

Die Abiturreden sind eine Veranstaltung des Kulturministeriums, von SR2 KulturRadio und der Union-Stiftung.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort