Gewitter zieht auf über Europa

Dieses für sie günstige Klima wollte die Donaumonarchie nutzen, um mit einer harten militärischen Strafaktion Serbien als politischen Machtfaktor auszuschalten. Da sich Serbien der Unterstützung Russlands sicher sein konnte, erhöhte dies allerdings die Gefahr, dass sich ein Konflikt nicht allein auf Südosteuropa begrenzen lassen würde und sich zu einem europäischen Krieg ausweiten könnte.

Hinter Russland standen nämlich Großbritannien und Frankreich, die ja 1907 ein Bündnis mit dem russischen Zaren geschlossen hatten.

Das Deutsche Reich wiederum stand bedingungslos hinter einer Militäraktion der Doppelmonarchie gegen Serbien. "Mit den Serben muss aufgeräumt werden", schrieb Kaiser Wilhelm II. an den Rand des Botschaftsberichts aus Wien vom 30. Juni 1914. Obwohl sich der deutsche Kaiser des Ernstes der Lage durchaus bewusst war, rechnete er dennoch nicht damit, dass sich aus einem harten Vorgehen Österreich-Ungarns ein allgemeiner Krieg entwickeln könnte. Wilhelm konnte sich nicht vorstellen, dass der russische Zar die Königsmörder in Belgrad unterstützen würde.

Das sich von den übrigen europäischen Mächten "eingekreist” fühlende Deutsche Reich wollte zudem nicht auch noch seinen österreichisch-ungarischen Bundesgenossen verlieren. Wilhelm ließ Kaiser Franz Joseph daher am 6. Juli 1914 über den deutschen Botschafter in Wien zusichern, dass der deutsche Kaiser "im Einklang mit seinen Bündnisverpflichtungen und seiner alten Freundschaft treu an der Seite Österreich-Ungarns stehen” werde. Man hat dies später als die "Ausstellung eines Blankoschecks" bezeichnet.

In Berlin, wie in allen anderen europäischen Metropolen auch, herrschte zu diesem Zeitpunkt bereits Urlaubsstimmung. An Krieg dachte in diesem Augenblick kaum jemand. Der Kaiser selbst begab sich am 6. Juli auf seine alljährliche Nordlandreise. Weder für das Heer noch die Marine waren irgendwelche Anordnungen erlassen worden, die auf einen möglichen Krieg hingedeutet hätten.

Die Merziger Zeitung berichtete ausführlich über die Nordlandfahrt des Kaisers und meldete beispielsweise am 12. Juli 1914: "Wiederum weilt Kaiser Wilhelm an den wildromantischen Gestaden Norwegens, um hier, im Anblick einer erhabenen Natur, für einige Wochen Erholung von den Pflichten und Anforderungen seines hohen Herrscheramtes zu suchen. Der jetzige Besuch des Kaisers in Norwegen stellt ein Jubiläum für ihn dar, denn der erlauchte Monarch ist hiermit zum 25. Male nach diesem skandinavischen Land gekommen.”

Selbst in Wien schien sich die Lage wieder zu entspannen, wie einer Meldung der Merziger Zeitung vom 19. Juli 1914 zu entnehmen ist: "Die gespannte Situation zwischen Österreich-Ungarn und Serbien beginnt nachzulassen. Hierfür zeugt namentlich der Umstand, dass sowohl der Reichskriegsminister v. Krobatin als auch der österreichisch-ungarische Generalstabschef Konrad von Hötzendorf auf Urlaub gegangen sind, was darauf hindeutet, dass man an den maßgebenden Wiener Stellen vorerst keine Verschärfung der politischen Verwicklungen mit Serbien befürchtet.” Allerdings änderte sich die Situation schlagartig, nachdem die österreichische Regierung am 23. Juli 1914 ein äußerst hartes, auf 48 Stunden befristetes Ultimatum an Serbien gerichtet hatte.

Besorgt über die neue, höchst unheilvolle Entwicklung orakelte die Merziger Zeitung einen Tag später: "Gewitterzeichen! Die Zeichendeuter sind eifrig bei der Arbeit, aus den Wolken am politischen Horizont das kommende Wetter herauszulesen. Die Spannung, die dem erwarteten österreichischen Schritt gegen Serbien vorangeht, hält alle Gemüter in Aufregung und man macht sich auf ernste Tage gefasst. Die Nachricht, dass der österreichische Generalstabschef , Freiherr von Hötzendorf, telegraphisch nach Wien zurückberufen ist, hat gestern große Beunruhigung hervorgerufen, die man mit der Mitteilung zu beschwichtigen suchte, er sei ans Krankenlager seines Sohnes gerufen worden, der in einem Wiener Sanatorium schwer darniederliegt.”

Die serbische Regierung akzeptierte das ihr von Wien gestellte Ultimatum in fast allen Punkten und wies nur die Mitwirkung österreichischer Beamter bei den innerstaatlichen Untersuchungen des Attentats zurück, da dies einen Eingriff in die staatliche Souveränität Serbiens bedeutet hätte.

Die überraschend entgegenkommende serbische Antwortnote hatte einen Stimmungswandel in den Hauptstädten Europas zur Folge. Sogar Kaiser Wilhelm II. betonte, dass damit "jeder Grund zum Krieg” entfalle. Noch einmal kam es zu diplomatischen Vermittlungsversuchen; der Frieden schien nach wie vor möglich.

Österreich-Ungarn wollte allerdings sein Vorhaben, den Vielvölkerstaat durch die Niederwerfung Serbiens im Inneren zu stabilisieren, nicht durch die internationalen Verständigungsbemühungen gefährden lassen. So erklärte es Serbien schließlich am 28. Juli 1914 den Krieg.

Die unerträgliche Spannung, die sich nach dem österreichischen Ultimatum an Serbien urplötzlich überall in Europa aufgebaut hatte, war auch in unserer Region zu spüren. In vielen Quellen kommt dies unmissverständlich zum Ausdruck "Gibt es Krieg?”, überschrieb beispielsweise der Dillinger Anzeiger seine Schilderung der Lage am 28. Juli 1914 und fuhr fort: "Das ist der Gedanke auf dessen Basis sich seit einigen Tagen der Gesprächsstoff bildet. Überall, wohin man kommt, wo sich Menschen befinden, wird dieses Thema behandelt, wird viel über diesen Punkt diskutiert. Seit Samstagabend bis heute noch gleicht unsere Redaktion einer belagerten Burg. Wissbegierige halten geduldig aus, bis die neuen Depeschen zur Ausgabe gelangen. Trotz strömenden Regens blieben sie stehen und hielten aus, bis ihr Wille, schnell ein Extrablatt zu erhalten, erfüllt war. Mögen sich die allzu pessimistischen Auffassungen, nach welchen der Weltkrieg unvermeidlich sein soll, nicht erfüllen. Vertrauensvoll blicken wir auf unseren Kaiser, der nicht umsonst der Friedenskaiser genannt wird. Seinem weisen Handeln wird es vielleicht auch diesmal gelingen, das Schreckliche abzuwenden.”

"Dem zwischen Österreich und Serbien am 28. Juli ausgebrochenen Kriege ”, heißt es beispielsweise auch in der Haustadter Schulchronik, "brachte man hier großes Interesse entgegen, da jeder erkannte, dass auch wir hierin verwickelt werden könnten. Dass uns wirklich eine Gefahr drohe, erkannte man hier zum ersten Mal, als am 29. Juli zwei Landsturmleute aus Haustadt von der Schraubenfabrik Karcher aus zur Landbewachung der Rehlinger Brücke und der Bahnübergänge eingezogen wurden."

"Die gespannte politische Lage hat auch hier und im ganzen Kreise die Gemüter tief erregt”, berichtete die Merziger Zeitung am 29. Juli 1914. "Am Samstagabend ging es in der Poststraße, besonders vor dem Stadthause, sehr lebhaft zu. Gegen halb 10 Uhr wurde erst bekannt, daß Österreich-Ungarn infolge der ungenügenden Erklärung Serbiens die diplomatischen Beziehungen zu jenem Staat abgebrochen hatte. Dieser entschlossene Schritt Österreichs fand in allen Kreisen ungeteilten Beifall. Alle waren sich des Ernstes der Lage voll bewusst, die durch das energische Vorgehen Österreichs plötzlich geschaffen war. Es ging wie ein Gefühl der Befreiung durch die Reihen, dass endlich einmal etwas gegen diese Serbenbande, diese Königsmörder, unternommen wurde. Auf dem Schützenfest hörte man ringsum die Worte Serbien und Österreich nennen, alles war im Kriegsgespräch. Da plötzlich spielte die Lyra "Deutschland über alles” und "Heil dir im Siegerkranz” und spontan fielen kräftige Männerstimmen in die Nationallieder ein. Wir wollen hoffen und wünschen, daß Russland Mäßigung zeigen und der Zar der hetzenden russischen Kriegspartei nicht unterliegen wird, denn das wäre der Beginn eines gewaltigen europäischen Krieges. Hoffen wir, dass das drohende Gewitter sich noch einmal verzieht.”

Diese Hoffnung sollte sich jedoch nicht erfüllen. Durch die österreichische Kriegserklärung an Serbien wurde das Räderwerk der wechselseitigen europäischen Bündnisverpflichtungen in Gang gesetzt: Am 30. Juli 1914 ordnete Zar Nikolaus II . die russische Mobilmachung an.

"Eine große Aufregung ist wegen der drohenden Kriegswirren im Lande”, wusste der Dillinger Anzeiger am 30. Juli 1914 zu berichten. "Durch unkontrollierbare Nachrichten wird dieselbe nur noch mehr gesteigert. So kommen Meldungen, wie "Der Zar ist ermordet”, "Russland macht 16 Armeekorps mobil”, "Österreich hat ein Ultimatum an Russland gerichtet” u.a.m., die schnelle Verbreitung finden und große Unruhe hervorrufen.”

Die umlaufenden Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg hatten bereits in den Tagen zuvor zu einem regelrechten Ausverkauf der Geschäfte in Stadt und Land geführt. Die Preise für Lebensmittel schossen in die Höhe. Vor allem haltbare Lebensmittel, wie beispielsweise Hülsenfrüchte , waren schon nach kurzer Zeit nicht mehr zu haben.

Die Merziger Zeitung meldete am 31. Juli 1914 in diesem Zusammenhang: "Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Die widersinnigsten Gerüchte über den Krieg zirkulierten gestern in der Stadt und als Folge davon wurde ein allgemeiner Run auf die Geschäfte veranstaltet. In der Angst wurden die unentbehrlichsten Gewürze und Lebensmittel sogar zentnerweise zusammengekauft. Überall sah man vollgepackte Körbe und Wägelchen. Verschiedene Kaufleute machten sich natürlich den guten Geschäftsgang zu nutze und schlugen, obwohl sie ihre Waren billig eingekauft haben, auf das Pfund Mehl oder Salz 6 bis 10 Pfennig auf. Andere Waren wiederum wurden als ausverkauft bezeichnet. Mit der Zurückhaltung dieser Waren will man wahrscheinlich die Preise in die Höhe treiben. Verschiedene hiesige Geschäftsleute mussten im großen und ganzen den ihnen von ihren Lieferanten in Saarbrücken vorgeschriebenen Anordnungen folgen. Ein besonders schlauer Handelsmann machte am Spätnachmittag in mehreren Engros-Geschäften in Merzig Besuche und wollte sämtliche noch vorhandenen Hülsenfrüchte zusammenkaufen. Gott sei Dank gingen die einsichtigen Geschäftsinhaber nicht auf dieses Angebot ein. Wir können unseren Lesern nur den guten Rat geben, durch Zurückhaltung beim Einkaufen den durch nichts gerechtfertigten Preisaufschlägen die Spitze zu nehmen. Durch unsere Schutzzollpolitik sind wir im Deutschen Reich auf Jahre hinaus mit Getreide versehen. Und blicken wir ringsum auf unsere fruchtbeladenen Felder! Steht da nicht alles gut? Also Ruhe und nochmals Ruhe! Mit festem Gottvertrauen wollen wir in die Zukunft schauen!”

Nachdem Russland am 30. Juli die Mobilmachung angeordnet hatte, reagierte das Deutsche Reich einen Tag später mit einem auf zwölf Stunden befristeten Ultimatum, in dem es von Russland die unverzügliche Einstellung der Mobilmachung gegen Deutschland und Österreich-Ungarn forderte. Da das deutsche Ultimatum unbeantwortet blieb, erklärte das Reich am 1. August 1914 Russland den Krieg.

Mit Gott für Kaiser und Reich

Schon am 31. Juli 1914, am Tag vor der deutschen Kriegserklärung an Russland, war im Reich der Kriegszustand verhängt und die Teilmobilmachung verkündet worden. Diese Nachricht bewegte die Menschen natürlich auch in der Merziger Region zutiefst, wie die Merziger Zeitung am 1. August 1914 zu berichten wusste: "Die Verhängung des Kriegszustandes wurde gestern im ganzen Stadtgebiet lebhaft besprochen. Die Leute standen in Massen auf den Straßen und namentlich vor dem Stadthaus war kaum durchzukommen. Unsere Extraausgabe mit der amtlichen Verkündigung des Kriegszustandes wurde den Trägern förmlich aus der Hand gerissen. Die in der Ausgabe verfügten Bestimmungen nach den strengen Kriegsgesetzen wurden eingehend studiert. Wer dies noch nicht getan hat, sollte es unverzüglich nachholen, um sich vor den strengen Strafen zu schützen. Den Anordnungen der im öffentlichen Sicherheitsdienst tätigen Bürger, die durch eine schwarz-weiß-rote Armbinde mit dem Reichsadler gekennzeichnet sind, ist in jedem Fall unverzüglich Folge zu leisten. Widerstand gegen dieselben wird nach den Kriegsgesetzen bestraft. Ansammlungen auf den Plätzen und in den Straßen sind ebenfalls verboten, die Wirtschaften müssen um 10 Uhr geschlossen sein. Die Reservisten sind von gestern auf heute ununterbrochen von hier abgereist, um zu ihren Truppenteilen einzurücken. Die meisten der jungen Leute mussten sich innerhalb von 6 Stunden bei ihrem Regiment stellen. Zur Beruhigung der Einwohner teilen wir mit, dass durch die Verhängung des Kriegszustandes allein noch keine Mobilisierung stattfindet, vielleicht auch nicht zu erwarten ist. Auf jeden Fall ist das schöne Dichterwort jetzt sehr zu beherzigen: "Ruhe ist des Bürgers erste Pflicht!”

Die lange geläufigen Bilder der Kriegsbegeisterung, die die gesamte Bevölkerung erfasst haben soll und in einer Vielzahl von zeitgenössischen Berichten beschrieben wird, haben sich im Licht der historischen Forschung zum Teil als zweifelhaft erwiesen. Vom siegessicheren nationalen Taumel waren vor allem Großstädter und Studenten ergriffen. Auf vielen Fotos aus den Sommertagen 1914 sind Studenten und andere Hurra-Patrioten zu sehen, strahlende Burschen mit Blumen in Gewehrläufen, an den Eisenbahnwaggons kecke Sprüche, wie "Ausflug nach Paris". Seit dem österreichischen Ultimatum an Serbien hatte sich die Zuspitzung der internationalen Beziehungen als schier unerträglicher Druck auf das Gemüt der Bevölkerung niedergeschlagen. Diese Spannung entlud sich nun auf den Straßen.

In der Hoffnung auf ein Abenteuer, das spätestens Weihnachten siegreich beendet sein sollte, und begleitet vom Läuten der Kirchenglocken und den Kriegspredigten der Geistlichen aller Bekenntnisse feierten allerdings nicht nur in größeren Städten viele Menschen die ersehnte Erlösung aus der Unsicherheit. In unserer Region wurden zum Teil ebenfalls Meldungen über Freudenausbrüche der Menschen in Umlauf gesetzt, als am 31. Juli 1914 die Nachricht von der Verhängung des Kriegszustandes eintraf.

Der Dillinger Anzeiger beispielsweise meldete am 4. August 1914: "War man schon seit mehr als einer Woche in größter Spannung über die Ereignisse am politischen Horizont, so wurde diese Spannung in den letzten Stunden aufs äußerste gesteigert. Kaum war der Kriegszustand verkündet, so folgte am Samstagabend die Mobilmachungsorder. Also hatte es Russland doch fertig gebracht, seinen Trotzkopf durchzusetzen und den traurigen Mut gefunden, sich zum Beschützer der schuldbeladenen Serben aufzuwerfen. Die Wogen der Begeisterung stiegen hoch und lösten bei Bekanntwerden des Mobilisierungsbefehls wahre patriotische Kundgebungen aus. Kräftige Hurras erschallten aus unzähligen Kehlen und patriotische Lieder wurden gesungen. So wie es hier war, so soll es auch allerorts in unserem deutschen Vaterland sein, so dass wir mit guter Zuversicht der Zukunft entgegenblicken und sagen können: "Lieb Vaterland, magst ruhig sein!”

Der vorstehende Bericht gibt durchaus zu der Vermutung Anlass, dass auch hier in unserer Region das Erlebnis der überall sichtbaren Organisation der militärischen Maschinerie, die das ganze wehrfähige Volk zu ergreifen schien, zu einer nationalen Kriegsbegeisterung geführt hatte, die heute kaum noch nachvollziehbar ist. Man fühlte sich als kampfbereite Nation, die geschlossen agiert, wenn sie sich angegriffen glaubt. "Mit Gott für Kaiser und Reich" - diese Parole war auch in der Merziger Region die Losung in den Tagen der Mobilmachung im Sommer 1914. Die Männer zogen hier, wie auch an der übrigen Saar, freiwillig und patriotisch in den Krieg, bereit zu töten und getötet zu werden.

< Wird fortgesetzt.

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