Halten wir's mit Juli Zeh: „Zu viel Defensive wirkt destruktiv“

Saarbrücken · Als Wilhelm Genazino 1999 zu saarländischen Abiturienten redete – viele Jahre vor der Enttarnung der NSU, sprach er über die unterschätzte deutsche Gefahr des Rechtsradikalismus und Formen des versteckten, alltäglichen Faschismus – war nicht abzusehen, dass diese Autorenreden zur Tradition würden. Ins Leben rief sie der Literaturredakteur des SR, Ralph Schock. Ein im Conte Verlag erschienener Band bündelt nun alle Reden der Jahre 1999 bis 2015.

Macht man die Probe aufs Exempel und liest alle Abiturreden nach, ergeben sich interessante Beobachtungen. Wenn es darin ein Grundmotiv gibt, dann die Ermutigung, als junger Mensch sein Ich zu finden. "Wachbleiben, nicht einknicken für Jahre oder den Rest, Neues suchen, Verborgenes, Widersprüchliches, Schwieriges", wie es Guntram Vesper 2002 formulierte.

Die diese Festreden hielten - Wilhelm Genazino, Birgit Vanderbeke, Herta Müller, Guntram Vesper, Dieter Wellershoff, Raoul Schrott, Ulrike Kolb, Feridun Zaimoglu, Ulrich Peltzer, Christoph Hein, Juli Zeh, Thomas Hürlimann, Sibylle Lewitscharoff, Martin Mosebach, Jenny Erpenbeck und Marcel Beyer - , sie standen alle vor derselben Ausgangssituation: Was lässt sich Abiturienten mit auf den Weg geben, ohne "altbackene, unendlich zerkaute Belehrungen" (Hein) zu liefern? "Kaum ein anderer Zeitpunkt im menschlichen Leben wird mit so viel Bedeutung befrachtet", wie Juli Zeh es 2010 stellvertretend für ihre Kollegen formulierte.

Einige Autoren sind womöglich bereits an dieser Hürde gescheitert: Sie wussten nicht, was sie ihren Adressaten eigentlich mitteilen sollten. Jedenfalls erstaunt, wie viele belanglose Reden es gab in diesen 17 Jahren. Ob Birgit Vanderbekes nichtige Medienkritik (2000), Ulrike Kolbs mäßig originelle Verteidigung des homo ludens (2006), Feridun Zaimoglus dünn ausfallendes Lob der Sehnsucht und der Parallelwelten (2007), im Jahr darauf Ulrich Peltzers lahme Aufmunterung dazu, eigene Talente auszuprägen oder zuletzt Marcel Beyers deplatzierte, die Adressaten seiner Rede weitgehend ignorierende Analyse eines Fotos, das die US-Regierung im Oval Office im Augenblick der Liquidierung Osama bin Ladens zeigt.

Auf der anderen Seite enthält der von Ralph Schock herausgegebene und von der Unionstiftung großzügig unterstützte Conte-Band - dem 2009 eine seinerzeit bei Gollenstein erschienene erste, zehnbändige Kassette vorausging - auch Reden, die haften bleiben. Christoph Hein mahnte die Abiturienten 2009, "an unseren Göttern - Effizienz, Wirtschaftlichkeit und Rendite - zu zweifeln" und geißelte unsere Habgier als "die schlimmste Sünde". Dieter Wellershoff ging 2003 auf erhellende Weise der Frage nach, wo die sozialen Grenzen der Selbstverwirklichung liegen. Und Thomas Hürlimann gelang 2011, ausgehend von der Pennäler-Grunderfahrung unendlicher Wiederholungen, ein famoser Essay über das Wesen der Wiederholung und seine beiden Spielarten: die teuflische "Repitition des Banalen" und die himmlische Wieder-Holung im Sinne einer Vergegenwärtigung des "Ewigen in der Zeit".

Die substanziellste aller Reden hielt 2010 Juli Zeh. Hatte Raoul Schrotts 2004 im streitbarsten aller Texte (einer zwar etwas stereotypen, aber doch aufrüttelnden Publikumsbeschimpfung) heutige Abiturienten unter Konformismus-Generalverdacht gestellt, so erinnerte Zeh daran, das der aktuelle, auf der "Ökonomisierung aller Lebensbereiche" fußende Zeitgeist "mit Verlaub nicht von Abiturienten gemacht wurde". Ebenso wenig wie jene heutige, Angst und Druck erzeugende, manische Präventionsversessenheit im Zeichen des Verhinderns von Gefahren, Risiken, Bedrohungen, Krisen. "Zu viel Defensive wirkt destruktiv", mahnte Zeh. Das sollten wir uns merken. Wie auch, dass es keinen Anspruch auf Glück gibt. Dienen doch die kursierenden "Techniken des Glückserwerbs" (etwa das ewige Effizienz- und Effektivität-Gerede), auch daran erinnert Zeh, in Wahrheit als Disziplinierungstechniken.

Ralph Schock (Hrsg.): Reden an die saarländischen Abiturienten. Conte, 365 S. (nebst mp3-CD mit allen Reden), 19,90 €.

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