Gesunde Ernährung Unsere Gene und die Gier auf Süßes

Saarbrücken · Auf Zucker und Süßigkeiten braucht keiner gänzlich zu verzichten. Das Problem sind große Mengen zusätzlich gezuckerter Nahrungsmittel.

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Foto: SZ

Unsere Vorliebe für Zucker ist teils genetisch, teils kulturell bedingt. Bis zu einem gewissen Grad mögen alle Menschen Zucker. „Dennoch gibt es beträchtliche Abweichungen, die auf Unterschiede in den Genen zurückzuführen sind“, sagt Professor Dr. Tim Spector von der Universität London.

Gemeint sind die Gene, die die Baupläne für die Geschmacksknospen auf der Zunge liefern. Genauer gesagt handelt es sich um die Andockstellen, sogenannte Rezeptoren, die in den Hüllen der Geschmackszellen der Zunge stecken und bestimmte Stoffe, die wir verzehren, als süß wahrnehmen. Manche Menschen sind regelrecht süchtig nach Süßem, andere machen sich nur wenig daraus. „Die Neigung zur Fettleibigkeit ist genetisch stark mit der Vorliebe für Zucker verknüpft“, sagt Spector.

Risiko-Gene für Fettleibigkeit: Im Jahr 2015 hat ein großes internationales Team aus Forschern mehrerer Universitäten anhand von 125 Studien, an denen insgesamt rund 340 000 Menschen teilgenommen hatten, 97 Gene identifiziert, die mit Fettleibigkeit im Zusammenhang stehen. Jedes dieser Gene hat nur einen winzigen Einfluss aufs Übergewicht. „Diese Gene stellen kein Problem dar, solange man nicht mit bestimmten Arten von Nahrung zu tun hat“, sagt Tim Spector. Doch Menschen, die über mehrere solcher Gene verfügten, verspürten stets eine große Lust auf Süßes.

Eine Studie der amerikanischen Harvard-Universität in Boston hat gezeigt, dass Menschen, die mehr als zehn Risiko-Gene für Fettleibigkeit geerbt haben, besonders anfällig für die Auswirkungen gezuckerter Getränke sind. Wenn sie täglich nur eine Dose davon trinken, verdoppelt sich ihr Risiko, innerhalb der nächsten fünf Jahre fettleibig zu werden. Die Wissenschaftler aus mehreren Fachbereichen hatten bei 33 097 Amerikanern nach den wichtigsten Genen für Fettleibigkeit gesucht und dabei diesen Zusammenhang entdeckt.

Mühsame Suche nach Früchten: Warum Zucker so stark mit unseren Fettleibigkeitsgenen zusammenwirkt, ist noch unklar. Doch offensichtlich hat unser Körper ein genetisch festgelegtes Bedürfnis nach Zucker. Das hat sich wahrscheinlich im Lauf der Evolution herausgebildet, denn unsere frühen Vorfahren mussten Früchte und Honig mühsam aufspüren. Zudem standen diese Nahrungsmittel nicht das ganze Jahr über zur Verfügung. Da süße Früchte und Honig schnell und reichlich Energie liefern, hat der frühe Mensch die Strapazen der Suche auf sich genommen. Heute wird ihm in unserer Überflussgesellschaft die Lust auf Süßes oft zum Verhängnis. Die meisten Gene, die mit unserer Vorliebe für Zucker zu tun haben, wirken auf das Gehirn ein.

Die Essvorlieben der Familie: In einer Studie mit Zwillingen hat eine Gruppe von Forschern der Universitäten Helsinki und London herausgefunden, dass bei Menschen fast 50 Prozent der Unterschiede bei den Vorlieben für Süßes auf die Gene zurückzuführen sind. Das heißt aber auch, dass etwas mehr als 50 Prozent von den Ernährungsgewohnheiten und Essvorlieben der Familie und dem sozialen Umfeld abhängen.

In der finnisch-britischen Studie stellte sich heraus, dass die Teilnehmer, die eine 20-prozentige Zuckerlösung als köstlich empfanden, auch häufig andere zuckerhaltige Lebensmittel konsumierten.

Zweifellos spielen Gene eine große Rolle, wenn schon Babys zuckerreiche Kost mögen. „Doch die anschließende Ernährung mit großen Mengen Zucker hebt die Wahrnehmungsschwelle für Süßes an“, sagt der Gen- und Ernährungsforscher Tim Spector. „Das scheint uns in den letzten Jahren dazu gebracht zu haben, immer noch mehr davon zu wollen.“

Ein früher Mahner: Der Ernährungswissenschaftler Professor Dr. John Yudkin von der Universität London vertrat schon 1972 in seinem Buch „Süß, aber gefährlich – Der Zuckerreport“ die Meinung, nicht Fett, sondern Zucker sei die Hauptursache für Übergewicht. Er erklärte, industriell hergestellter, raffinierter Zucker sei in der menschlichen Ernährung relativ neu. Da er leicht verfügbar sei, verzehrten wir nun 20-mal mehr als je zuvor in der Geschichte.

„Seit 1990 hat der Konsum von Zucker in Großbritannien pro Jahrzehnt um 10 Prozent zugenommen, auf Kosten des Fettverzehrs“, berichtet Tim Spector. Ihren heutigen Zuckerkonsum richtig einzuschätzen, fällt Verbrauchern schwer, weil inzwischen vielen Nahrungsmitteln Zucker beigemischt wird. Oft ahnen die Kunde davon gar nichts. Beispielsweise enthält Rotkohl im Glas Zucker, meist auch Heringssalat, Pizza, Naturjoghurt, Müsli, Tütensuppen oder Ketchup.

Langsames Kauen ist gesund: Um die Auswirkungen eines hohen Zuckeranteils in der Nahrung auf den Organismus zu verstehen, muss man die beiden Zucker, die am häufigsten auftreten, Glukose und Fruktose, getrennt betrachten. Beide stecken als natürliche Bestandteile in vielen Lebensmitteln. Sie werden jedoch zum gesundheitlichen Problem, weil sie oft noch in großen Mengen zugesetzt werden.

Die Glukose geht aus dem Darm ins Blut über, während der größte Teil der Fruktose, bis zu 90 Prozent, über den Darm direkt zur Leber befördert werden (siehe Text unten).

Unser Verdauungssystem ist darauf ausgelegt, dass wir die Nahrung langsam zerkauen und schlucken. Nur dann setzen Magenschleimhaut, Bauchspeicheldrüse, Leber und Gallenblase im richtigen Maß Hormone frei, die bei der weiteren Aufspaltung helfen. Zudem signalisieren die Hormone dem Gehirn, dass wir den Magen voll haben. Das löst ein Sättigungsgefühl aus.

Sobald die Nahrung eintrifft, schüttet die Bauchspeicheldrüse Insulin aus. Dieses Hormon sorgt dafür, dass die vom Darm ins Blut beförderte Glukose in die Zellen des Körpers eingeschleust und als Energielieferant verwertet werden kann. Die Gallenblase sondert Gallensäuren ab, die den Mikroorganismen im Darm signalisieren, dass Nahrung unterwegs ist, die sie verdauen sollen.

Fataler Zucker-Guss: Dieser langsame, zweckmäßige Prozess kann allerdings nicht ablaufen, wenn wir ein zuckerreiches Getränk trinken und dazu womöglich noch einen Teller Nudeln aus raffinierten Kohlenhydraten essen. Das erfordert nur wenig Kauen, weshalb der Organismus keine Zeit hat, die richtigen Signale zu senden.

„Trifft diese zuckerhaltige Ladung im Magen ein, wandert sie rasch in den Dünndarm weiter, wo der größte Teil des Zuckers absorbiert wird. Das löst eine abnorme und falsch getaktete Insulinreaktion aus, was den Abbau der Glukose verändert“, sagt Tim Spector. „Für den unerwarteten Zucker sind die Gallensäuren falsch gemischt. Zudem werden die normalen Darmbakterien durch ungesunde Arten ersetzt, die sich vom Zucker ernähren.“

Die „falschen“ Darmbakterien: Diese ungesunden Darmbakterien senden neue Botschaften aus, um die hormonellen Signale sowie die Zusammensetzung der Gallensäuren zu verändern. Dadurch wird das System stark gestört. „Die Darmbakterien, die den Zucker aufnehmen, der voller Kalorien steckt, jedoch keine Nährstoffe enthält, signalisieren dem Gehirn, dass sie noch mehr Zucker brauchen.“ So entsteht der Heißhunger auf Süßes.

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