Geschädigtes Bindegewebe ist neuer Hauptverdächtiger bei Rückenschmerzen

Ulm · Das muskuläre Bindegewebe im menschlichen Körper, auch als Faszien bezeichnet, wird erst jetzt gründlich erforscht. Es spielt eine wesentliche Rolle bei der Kraftübertragung, der Körperwahrnehmung und bei Rückenschmerzen.

 Eine spezielle Massage zur Lockerung des verklebten Bindegewebes wird Rolfing genannt, nach ihrer Erfinderin Ida Rolf. Foto: Fotolia

Eine spezielle Massage zur Lockerung des verklebten Bindegewebes wird Rolfing genannt, nach ihrer Erfinderin Ida Rolf. Foto: Fotolia

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Dr. Robert Schleip ist als Faszienforscher an der Universität Ulm den Geheimnissen unseres Bindegewebes auf der Spur. Der studierte Psychologe beschäftigt sich mit Bindegewebe, seit er in den 1980er Jahren eine Ausbildung in alternativer Körpertherapie begann, dem sogenannten Rolfing. Diese Massagemethode wurde in den USA seit etwa 1940 entwickelt und geht zurück auf die Biochemikerin Ida P. Rolf, die das Bindegewebe als maßgebliche Körperstruktur ins Auge fasste. Statt den Muskeln messen Rolfing-Therapeuten dem Bindegewebe eine überragende Rolle bei Verspannungen zu - auch bei Rückenschmerzen. Rolfer arbeiten auf dem freien Therapiemarkt, die Patienten bezahlen privat.

Robert Schleip eröffnete in München eine eigene Praxis, die gut ging. Trotz spürbarer Erfolge genügte ihm jedoch mit der Zeit die Theorie seiner eigenen Schule nicht mehr. Von Energiefluss und Blockaden war da die Rede, und es herrschte die Vorstellung, dass der Rolfer das Bindegewebe durch Druck mit den bloßen Händen verformen kann wie Knetmasse. "Das eine war esoterisch, das andere unplausibel, und da wollte ich einfach wissen, was naturwissenschaftlich hinter unserer Methode steckt", sagt Schleip.

Nach 25 Jahren alternativer Bindegewebsmassage ging der Körpertherapeut in die harte Wissenschaft. An der Universität Ulm begann er, Bindegewebe im Labor zu untersuchen. Er entwickelte eigene Messapparate, in die er Faszienstücke einspannte und verschiedenen körpereigenen Botenstoffen aussetzte. Seine These war, dass Stress sich auf die Faszien auswirkt. Tatsächlich zeigte sich, dass Faszien sich eigenständig, unabhängig vom Muskel, zusammenziehen können. Sie kontrahieren, wenn man ihnen Substanzen zusetzt, die im menschlichen Körper mit Stress in Verbindung stehen. Heute arbeitet Robert Schleip in seiner eigenen Faszien-Forschungseinheit in Ulm und gilt in Deutschland als der bekannteste Vertreter dieses Bereichs. Das alternative Image ist er losgeworden, seit er auf internationalen Kongressen mit Schmerzforschern und Sportmedizinern auf dem Podium sitzt, selbst Kongresse organisiert und ein Netzwerk der Faszienforschung geschaffen hat. "Praktisch jeden Tag kommt neues Wissen dazu, aus der ganzen Welt", berichtet er.

Das gilt auch für Rückenschmerzen. Die haben die Faszienforscher speziell im Visier, denn die große Rückenfaszie, die eine der dicksten Faszien im menschlichen Körper ist, lässt sich seit Kurzem mit neuartigen Ultraschallgeräten untersuchen.

Schon in früheren Studien konnte gezeigt werden, so die Neurophysiologin und Ärztin Dr. Heike Jäger, die mit Robert Schleip zusammenarbeitet, dass bei Rückenpatienten die Faszien im unteren Rücken verdickt sind und dass der gesamte Bereich dort schmerzempfindlicher ist. Die Ulmer gehen dem nach.

Stress als Auslöser der Schmerzen liegt nach Schleips eigenen Forschungen nahe, aber es könnte auch anderes dahinterstecken, wie ein Rücken- und Schmerzforscher aus den USA erstmals vermutete: kleine Wunden und Risse in der Lendenfaszie, die etwa beim falschen Heben, bei plötzlichen Belastungen oder falschem Training entstehen können. Diese kleinen Verletzungen führen dann möglicherweise zu Entzündungen im Fasziengewebe.

Da die Lendenfaszie für die reibungslose Koordination der vielen starken Muskeln in Rücken- und Beckenbereich zuständig ist, hat das Folgen. Die Muskeln verkrampfen sich und der tiefe Kreuzschmerz ist da - ohne jeden Befund auf dem Röntgenbild. Denn das bildet Weichteile wie Bindegewebe nicht ab, sondern zeigt nur die - meist unschuldigen - Wirbel.

Weitere Indizien liefern die Entdeckungen des Mannheimer Muskel- und Schmerzforschers Professor Dr. Siegfried Mense. Die große Lendenfaszie ist besonders dicht mit Schmerzrezeptoren besiedelt. Verletzungen oder Dauerbelastungen können diese Schmerzrezeptoren überreizen, so dass der Schmerz chronisch wird. Weltweit werden inzwischen solche Vorgänge in den Faszien und ihr Anteil am ungeklärten Rückenschmerz diskutiert, und das könnte bald Auswirkungen auf Behandlung und Vorbeugung haben.

"Wir glauben, dass die Lendenfaszie speziell gedehnt werden muss, und zwar bei rundem Rücken. Also mit speziellen Beugungen und Dehnungen. Wichtig sind aber auch Anreize durch federnde Bewegungen", sagt Robert Schleip, der ein Trainingsprogramm entwickelt hat, das speziell auf die Faszien eingeht.

fascial-fitness.de

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