Im Notfall schießt er auch ElfmeterDie Italiener beschwören die Vergangenheit Keine Angst mehr vor Altobelli

Gutes Gefühl geht anders. Dabei weiß ich, dass Deutschland derzeit stärker als Italien ist, könnte es facettenreich begründen, aber irgendwo tief in mir schlummern Zweifel, hervorgerufen durch ein Trauma: Das WM-Finale 1982. Es ist das erste Fußballspiel, an das ich mich ernsthaft erinnern kann

Gutes Gefühl geht anders. Dabei weiß ich, dass Deutschland derzeit stärker als Italien ist, könnte es facettenreich begründen, aber irgendwo tief in mir schlummern Zweifel, hervorgerufen durch ein Trauma: Das WM-Finale 1982. Es ist das erste Fußballspiel, an das ich mich ernsthaft erinnern kann. Ich war sieben Jahre alt, als ein gewisser Alessandro Altobelli das 3:0 beim 3:1-Sieg der Italiener gegen Deutschland schoss. Danach schmiss ich meine Adiletten entnervt vom Balkon in den Garten, heulte und beschloss, der deutsche Altobelli zu werden, der es den Italienern heimzahlt.Daraus wurde nichts. 2006 war ich als Berichterstatter beim WM-Halbfinale in Dortmund dabei und musste entnervt darüber schreiben, dass die Italiener beim 2:0-Sieg einfach besser waren, verdient gegen die Deutschen gewannen. Das schmerzte nochmals.

Doch dieses Mal habe ich vorgesorgt. Ich werde keine Adiletten tragen, ich werde nicht im Stadion sein und werde eine Altobelli- oder Balotelli-Puppe mit Nadeln piesacken. Zwar gibt mir das kein gutes Gefühl, aber ich habe zumindest alles für den Sieg getan.Warschau. Auf seinen "emotionalen Anführer" will Joachim Löw partout nicht verzichten. Darum wird sich Bastian Schweinsteiger auch im Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft gegen Italien wieder quälen, mindestens 90 Minuten, notfalls auch 120. Und wenn's sein muss, würde er sogar zum Elfmeterschießen antreten. "Ich habe keine Scheu davor", sagte der Vize-Kapitän vor seinem 95. Länderspiel heute ungeachtet seines folgenschweren Fehlversuchs im Champions-League-Finale der Bayern gegen den FC Chelsea.

"Bastian ist so selbstbewusst, wie wir ihn brauchen, absolut", sagte Löw über Schweinsteiger. Er habe "mit einigen Rückschlägen in dieser Saison kämpfen müssen", betonte der Bundestrainer, "aber wir brauchen Bastian Schweinsteiger. Er ist ein emotionaler Leader." Klose oder Gomez, Müller oder Reus, Podolski oder Schürrle - auf vielen Positionen hat Löw die Qual der Wahl. Nur vor einem Achsbruch im Zentrum des deutschen Spiels schreckt der Cheftrainer zurück, obwohl er in Schweinsteigers Bayern-Kollege Toni Kroos einen erprobten Mann in der Hinterhand hält. Schweinsteiger, Sami Khedira, Mesut Özil - diese strategische Achse, dieses Kraftzentrum im Mittelfeld will der Bundestrainer nur im äußersten Notfall sprengen.

Im letzten Gruppenspiel gegen Dänemark war Schweinsteiger wieder mit dem rechten Fuß umgeknickt, an dem er sich im Februar einen Außenbandriss zugezogen hatte. Er musste eine Trainingspause einlegen und spielte beim 4:2 im Viertelfinale gegen Griechenland schwach. "Ich bin zu hundert Prozent fit. Ich freu mich sehr auf den Klassiker. Ich konnte zweimal voll trainieren und fühle mich gut", vermeldete Schweinsteiger gestern in Warschau. "Ich habe das Gefühl, dass jetzt der Punkt gekommen ist, an dem wir auch den nächsten großen Gegner schlagen können", sagte der Vize-Kapitän. "Wenn das Spiel anfängt, bist du so voller Adrenalin, dass du den Schmerz verlierst."

An der Kondition, der Ausdauer fehlt es nicht. Fast 48 Kilometer hat Dauerläufer Schweinsteiger nach vier Spielen auf dem EM-Tacho. "Ich habe auch gegen Real Madrid und im Champions-League-Finale mit den gleichen Voraussetzungen gespielt. Da habe ich auch gute Spiele gemacht", erzählte der 27-Jährige. Er sei "sehr heiß" auf das Finale am Sonntag in Kiew: "Wir haben noch nie gewonnen gegen die Italiener in einem Turnier, deswegen ist es Zeit." Löw hat zuletzt viel gesprochen mit seinem Vize-Kapitän, den er in der entscheidenden Turnierphase in Bestform benötigt. "Bastian ist ein Spieler, der mitdenkt, der wissbegierig ist, der nachfragt, der sich wahnsinnig viele Gedanken macht, was die besten Lösungen für uns sind. Er ist unglaublich reif geworden", stimmte Löw ein Loblied auf den fast 100-maligen Nationalspieler an. dpa

Warschau. Andrea Pirlo griff vor dem Klassiker gegen Lieblingsgegner Deutschland in die Psycho-Trickkiste. Eher beiläufig erinnerte Italiens genialer Spielmacher vor dem EM-Halbfinale am Donnerstag (20.45/ARD) in Warschau an die vielen Turnier-Duelle beider Teams und verwies diabolisch schmunzelnd auf die Bilanz der DFB-Elf ohne einen einzigen Sieg. So bärenstark der Halbfinal-Rivale auch sein mag, Pirlo ist sicher: "Die Deutschen haben Angst vor uns."

Pirlos Hinweis auf das Italien-Trauma der Deutschen macht den Azzurri Mut - und soll Philipp Lahm und Co. verunsichern. Zusammen mit Torhüter Gianluigi Buffon, Daniele De Rossi und Andrea Barzagli gehörte der Edeltechniker zum Weltmeister-Team 2006, das den damaligen Gastgeber im Halbfinale nach Verlängerung mit 2:0 bezwang. Auch jene, die nicht dabei waren, werten die Partie vor sechs Jahren in Dortmund als gutes Omen. "Ich glaube zwar nicht, dass die Deutschen uns gegenüber einen Minderwertigkeitskomplex haben. Aber sie respektieren uns mehr als andere. So wird es auch am Donnerstag sein", prophezeite der Deutsch-Italiener Riccardo Montolivo.

Mit dem verdienten Viertelfinal-Sieg im Elfmeterkrimi gegen England kehrte die Hoffnungen auf einen neuerlichen Coup zurück. Wie schon 2006 redet kaum noch jemand über den Manipulationsskandal, der den heimischen Fußball damals wie heute vor Turnierbeginn erschütterte. Die turbulente Vorbereitung stärkte wieder auf wundersame Weise den Teamgeist der Azzurri. Ermutigt durch die bisher starken Auftritt wagte Pirlo vor der Partie gegen das hochgelobte Team von Joachim Löw sogar einen Vergleich mit dem amtierenden Welt- und Europameister: "Unser Mittelfeld ist so stark wie das der Spanier."

Als Vater des Erfolges wird Cesare Prandelli gefeiert. Der 54 Jahre alte Trainer hat den ängstlichen Catenaccio überwunden und seinem Team landesuntypischen Angriffsfußball verordnet. Allen Warnungen zum Trotz setzt der "Kulturrevolutionär" dabei auf schwierige Offensivspieler wie Antonio Cassano und Mario Balotelli. Da auch die Deutschen großen Wert auf Powerfußball legen, erwartet Pirlo einen attraktiven Schlagabtausch: "Es wird ein würdiges Halbfinale."

Doch zumindest in einer Hinsicht entsprechen die Azzurri noch dem alten Klischee. Nur vier Turniertore in vier Spielen erinnern an den Minimalismus vergangener Tage. Zumal nur ein Treffer aus dem Spiel heraus gelang: das 1:0 von Antonio Di Natale gegen Spanien. dpa

Auf einen Blick

In sieben Begegnungen bei großen Turnieren gelang Deutschland noch kein Sieg gegen Italien.

0:0 in Santiago am 31. Mai 1962 bei der WM in Chile (Vorrunde).

3:4 n.V. in Mexiko-Stadt am 17. Juni 1970 bei der WM (Halbfinale).

0:0 in Buenos Aires am 14. Juni 1978 bei der WM in Argentinien (Zwischenrunde).

1:3 in Madrid am 11. Juli 1982 bei der WM in Spanien (Finale).

1:1 in Düsseldorf am 10. Juni 1988 bei der EM in Deutschland (Vorrunde).

0:0 am 19. Juni 1996 in Manchester bei der EM in England (Vorrunde).

0:2 n.V. am 4. Juli 2006 bei der WM in Deutschland (Halbfinale). red

Hintergrund

Voraussichtliche Aufstellungen:

Deutschland - Italien in Warschau (20.45 Uhr/ARD):

Deutschland: Neuer (Bayern München/26 Jahre/30 Länderspiele) - Boateng (Bayern München/23/24), Hummels (Borussia Dortmund/23/18), Badstuber (Bayern München/23/24), Lahm (Bayern München/28/90) - Schweinsteiger (Bayern München/27/94), Khedira (Real Madrid/25/31) - Reus (Borussia Mönchengladbach/23/7), Özil (Real Madrid/23/37), Podolski (1. FC Köln/27/100) - Gomez (Bayern München/26/56).

Italien: Buffon (Juventus Turin/34/118) - Abate (AC Mailand25/4), Barzagli (Juventus Turin 31/31), Bonucci (Juventus Turin 25/18), Chiellini (Juventus Turin 27/53) - Marchisio (Juventus Turin 26/24), Pirlo (Juventus Turin 33/87), De Rossi (AS Rom 28/76) - Montolivo (AC Florenz 27/35) - Cassano (AC Mailand 29/33), Balotelli (ManCity 21/12).

 Deutschlands Bastian Schweinsteiger (links) und Bundestrainer Joachim Löw haben unter der Woche viel miteinander gesprochen. Ergebnis: Der Bundestrainer ist überzeugt, dass der Bayer Deutschland heute zum Halbfinal-Sieg über Italien führen wird. Foto: Marcus Brandt/dpa

Deutschlands Bastian Schweinsteiger (links) und Bundestrainer Joachim Löw haben unter der Woche viel miteinander gesprochen. Ergebnis: Der Bundestrainer ist überzeugt, dass der Bayer Deutschland heute zum Halbfinal-Sieg über Italien führen wird. Foto: Marcus Brandt/dpa

Schiedsrichter: Lannoy (Frankreich). dpa

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