Die Flucht aus der Stille

London · Jahrelang war Martin Pistorius in seinem eigenen Körper gefangen. Er fiel als Zwölfjähriger in ein Wachkoma, erlangte einige Zeit später sein Bewusstsein wieder, konnte sich aber weder bewegen noch sprechen. Sein Umfeld ahnte nicht, dass er alles mitbekam.

Wieder einmal flimmert Barney, der Dinosaurier , über den Bildschirm. Das rosa Plüschtier singt in der gleichnamigen US-Fernsehserie, während Kinder um ihn herum hüpfen und in seine großen weichen Arme springen. Wieder und wieder tun sie das, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. "Ich hasse Barney", denkt sich Martin Pistorius zum x-ten Mal, er ist längst der Zielgruppe von Vorschulkindern entwachsen. Doch der junge Mann muss sich dem Plüschtier geschlagen geben. Er kann weder den Ausknopf drücken noch jemandem mitteilen, dass er die Sendung verabscheut. Martin Pistorius lebt gefangen in seinem eigenen Körper, kann sich weder bewegen noch sprechen oder auf eine andere Weise mit seinen Eltern und Mitmenschen kommunizieren. Was alle lange Zeit nicht wissen: Bei klarem Verstand bekommt er mit, was um ihn herum passiert.

Im Alter von zwölf Jahren, da lebte er mit seiner Familie noch in Südafrika, kommt der technikbegeisterte Junge an einem Januartag von der Schule nach Hause und klagt über Halsschmerzen. Es soll das letzte Mal gewesen sein, dass er den Unterricht besuchte. Er wird zunehmend schwächer, verliert seine Sprache, ist am Ende gelähmt. Die Ärzte können sich die plötzliche Krankheit zunächst nicht erklären. Sie vermuten eine Hirnhautentzündung , ausgelöst durch Kryptokokken und erklären den Eltern, ihr Sohn werde nicht überleben. Doch anstatt zu sterben, wird Martin zum Pflegefall. In der US-Sendung "npr" erzählte jetzt sein Vater Rodney, wie er täglich um fünf Uhr morgens aufstand, seinen Sohn anzog und ihn in ein Heim fuhr, in dem Martin betreut wurde. Jeden Abend dann dieselbe Prozedur: "Wir haben ihn gebadet, gefüttert, ins Bett gebracht und ich habe mir meinen Wecker alle zwei Stunden gestellt, um ihn zu drehen, damit er sich nicht wund liegt." Doch bereits zwei Jahre, nachdem er ins Wachkoma gefallen ist, kommt Martin wieder zu Bewusstsein, ohne dass sein Umfeld von seinem neuen Zustand etwas ahnt.

Fortan lebt er in einer stillen und einsamen Welt, muss ansehen, wie seine Familie leidet. "Ich hoffe, du stirbst", sagt einmal seine Mutter an seinem Bett sitzend. Martin Pistorius kann nicht einmal weinen. Mit der Zeit lernt er, ihre Sorgen zu verstehen, ihre Enttäuschung über die Verwandlung des einst gesunden und fröhlichen Kindes in eine leblose Hülle. "Mein Körper ist ein Gefängnis, aus dem ich nicht entkommen kann", schreibt er später seine Gedanken in der Autobiografie "Ghost Boy" auf. "Ich wusste, wer ich war und wo ich war und ich habe kapiert, dass ich einem echten Leben beraubt wurde."

Martin Pistorius erinnert sich noch, wie Nelson Mandela 1994 Präsident von Südafrika wurde und an den Tod von Lady Diana drei Jahre später. Aber es ist der Dinosaurier Barney, der ihm den Antrieb gibt zu kämpfen. Er will schlicht nicht den Rest seines Lebens in der Klinik die Kinderserie in Dauerschleife anschauen müssen. Mithilfe des Sonnenstandes und des Wanderschattens lernt er, die Tages- und Nachtzeiten zu erkennen. Und wann "Barney" abgedreht wird. Durch seine Denkanstrengungen und Willenskraft reagiert der damals 26-Jährige plötzlich auf Tests. Seine Gefangenschaft ist zu Ende.

Heute sitzt der 39-Jährige zwar noch immer im Rollstuhl und kann nicht sprechen, doch mit Hilfe eines Computers lernt er, sich zu verständigen. Er holt nach, was ihm zuvor verwehrt geblieben war: Studieren, sich selbstständig machen, ein normales Leben führen, heiraten. "Mein Gesicht schmerzte, weil ich nicht aufhören konnte zu lächeln", erinnert sich Pistorius an die Zeit, als er sich in Joanna, eine Freundin seiner Schwester, verliebte. Und sogar die Computerstimme klingt irgendwie glücklich.

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