Ska Keller bei der SZ Eine Grüne mit langem Atem

Saarbrücken · Über Martin Sonneborn kann sie lachen, über Viktor Orban weniger: Ska Keller, Spitzenkandidatin der Grünen für die Europawahl, im SZ-Redaktionsgespräch.

 Die Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen, Ska Keller, nennt die Europawahl im SZ-Gespräch „richtungsentscheidend“.

Die Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen, Ska Keller, nennt die Europawahl im SZ-Gespräch „richtungsentscheidend“.

Foto: Robby Lorenz

Warum grüne Themen derzeit so angesagt sind, darauf weiß selbst Ska Keller keine griffige Antwort. Die junge Frau, die seit zehn Jahren im Europaparlament und an diesem Donnerstagmittag im Konferenzsaal der Saarbrücker Zeitung sitzt, lacht und zuckt mit den Achseln. Sie wisse nicht genau, ob es an den Freitagsdemos der Schüler oder an Greta Thunberg liege. Oder gar an jungen Politikern wie ihr? Franziska „Ska“ Keller, 37 Jahre alt, Spitzenkandidatin der Grünen für die Europawahl Ende Mai. Eine Wahl, die die gebürtige Brandenburgerin „richtungsentscheidend“ nennt. Es gebe schließlich Kräfte, die Europa zerstören wollten. Deshalb müsse die EU gerade jetzt gerüstet sein, Stichwort Klimakrise. Stichwort Steuervermeidung. „Es gibt tausend Beispiele dafür, warum wir die europäische Zusammenarbeit brauchen.“ So weit, so konsensfähig. Doch wie viel Europa brauchen wir? Da gebe es keine pauschale Antwort, auch in den Nationalstaaten würden die Kompetenzen – etwa zwischen Bund und Ländern – immer wieder neu verhandelt. Nur in einem Fall kann sich Keller „weniger Europa“ vorstellen: „Müssen wir die Grenzschützer von Frontex tatsächlich auf 10 000 Einsatzkräfte aufstocken?“ Europäische Flagge zeigt sie lieber anders. Zum Beispiel, indem ihre Fraktion darauf pocht, das Einstimmigkeitsprinzip in außenpolitischen und Steuerfragen abzuschaffen. Nur so könnte die Staatengemeinschaft auch mit qualifizierter Mehrheit – und damit effektiver – gegen Steuervermeidung vorgehen. „Wenn wir Schlupflöcher schließen wollen, kann es nicht sein, dass Steuersünder ins Nachbarland ausweichen können.“

Doch was tun gegen Dauer-Blockierer im Kreise von 28? Brauchen wir endlich einen starken Bundesstaat Europa? Die Grünen träumen von einer „föderalen Republik“. Kein Zentralstaat, aber starke europäische Institutionen. Entscheidend seien am Ende auch nicht die Benennungen, sondern die Maßnahmen, die die Gemeinschaft unternehme, um zusammenzuwachsen. Da sei es wenig hilfreich, wenn Deutschland die Europa-Ideen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron lange ignoriere, um schließlich in der Person von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer Straßburg als Parlamentssitz in Frage zu stellen. „Ein bisschen unhöflich“ sei das gewesen. Auch wenn sie persönlich nicht alle Vorschläge von Macron teile und selbst dafür wäre, den Sitz ganz nach Brüssel zu verlegen. Aber das nur so am Rande. Denn egal ob Straßburg oder Brüssel: Die Bilanz ist nicht nur wegen der ungelösten Flüchtlingsfrage getrübt. „Beim Wohlstandsversprechen sind wir in der EU nicht weit gekommen.“ Es gebe immer noch Länder, die stärker vom Binnenmarkt profitierten als andere. Um das zu kitten, brauche es keinen europäischen Sozialstaat, sondern in erster Linie Mindeststandards, etwa beim Mindestlohn oder Zugang zur Krankenversicherung. Auch dafür sei das Parlament ein entscheidender Impulsgeber. Den Vorwurf, die europäische Volksvertretung kranke immer noch an einem Demokratiedefizit, kontert Keller selbstbewusst: „Es stimmt nicht, dass wir nur Dekoration sind.“ Die Kommission nehme auch wichtige Initiativen des Parlaments auf, Beispiel Plastikverbot. Man sei nicht nur handlungsfähig, sondern auch vorausschauend. Stichwort: Teilnahme der Briten an der Europawahl. Für die Zeit nach dem Austritt habe das Parlament bereits geklärt, dass es die übriggebliebenen Sitze der Briten auf einige andere EU-Staaten verteilen werde. Doch wann das sein wird, ist ungewiss. Ob die EU nicht auch ein klein wenig erleichtert darüber sein kann, die Quertreiber von Downing Street irgendwann loszuwerden? „Nein, wir müssen versuchen, politische Mehrheiten zu organisieren und nicht missliebige Mitglieder rausschmeißen.“

Dem Satiriker Martin Sonneborn würden die Briten eigenen Angaben zufolge sogar fehlen. Er sitzt seit fünf Jahren für die Quatschpartei „Die Partei“ im EU-Parlament, Insider behaupten, er würde auch gelegentlich für Ökothemen stimmen. Da muss die Fraktionschefin herzhaft lachen. „Persönlich verstehe ich mich sehr gut mit Martin Sonneborn, aber wie er abstimmt, muss er selber sagen.“ Doch zurück zur Sachlichkeit. Thema Türkei. Die Wiederholung der Wahl in Istanbul sei ein „Tiefpunkt“. Deshalb aber die Beitrittsverhandlungen, die ohnehin auf Eis lägen, abzubrechen, sei das falsche Signal. Das sei nur Wasser auf die Populismus-Mühlen von Erdogan. Ein viel wirksameres Mittel: die Zollunion. Solange Menschenrechte verletzt werden, keine Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Punkt.

Auch Viktor Orban in Ungarn müsse man Einhalt gebieten. Es könne nicht sein, dass er mit Geld aus Brüssel ein Fußballstadion in seinem Heimatdorf finanziere. Die Kommission sollte die Mittel künftig selber verteilen, statt sie der Regierung zu überweisen. Hilfreich wäre auch eine parteiunabhängige Expertenkommission zur Beobachtung der Mitgliedstaaten. Bisher gebe es nur das Artikel-7-Verfahren als Ultima Ratio. Eine langwierige Sache, da müssten Maßnahmen, die vorher greifen, her. „Ich verzweifle auch öfter an der Politik“, bekennt die 37-Jährige. Aber es könne sich nur etwas ändern, wenn die Bürger zur Wahl gehen. Das gilt auch für die Klimaziele ihrer Partei, die Keller klar auf den Punkt bringt: CO2-Steuer mit Anreizen für Haushalte, die umweltfreundlich leben, mehr Steuerlast im Flugverkehr, weg von klimaschädlichen Technologien, ein europäisches Nachtzügenetz. Und Ihre ganz persönliche Ökobilanz, Frau Keller? Sie habe kein Auto, sei Vegetarierin. Zum Gespräch mit der SZ habe sie ein Elektroauto befördert. Außerdem: „Meine längste Zugfahrt war von Istanbul nach Brüssel.“ Ein langer Atem also, nicht nur als Abgeordnete im EU-Parlament.

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