Corona-Pandemie Der lange „Winter der Verzweiflung“

Berlin · Lockdown ohne Ende, Mutationen, Tote – Corona macht das Leben zurzeit schwer. Mut macht ausgerechnet einer, der als „Spaßbremse“ gilt.

  Aus dem Lockdown in den Schnee – für die einen unverantwortlich, für andere ein verständlicher Ausbruch.

Aus dem Lockdown in den Schnee – für die einen unverantwortlich, für andere ein verständlicher Ausbruch.

Foto: picture alliance/KEYSTONE/MARCEL BIERI

Wenn im Fernsehen mal eine ältere Serie läuft und sich dort Menschen umarmen oder auch nur enger zusammenstehen, meldet sich der kleine Jore aus Berlin sofort lautstark zu Wort: „Die halten den Abstand nicht ein!“ Jore ist sechs Jahre alt. Das heißt, dass Corona fast schon ein Sechstel seines Lebens ausmacht. Das prägt.

Im Winter 2020/21 kommt niemand mehr an Corona vorbei. Es ist jetzt fast schon Normalität, dass die Straßen leer gefegt sind und die Menschen hinter Masken unerkennbar bleiben. Die Corona-Todesfälle erreichen Höchststände. Apokalyptisch wirken die Bilder von übereinander gestapelten Holzsärgen im Corona-Hotspot Meißen in Sachsen. Dazu verstärken Virus-Mutationen die Angst vor einer Überlastung der Intensivstationen. Und die Infektionszahlen gehen einfach nicht runter. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) plant deshalb offenbar einen noch strengeren Lockdown. Am Dienstag will sie mit den Länderchefs beraten.

Jetzt kämen „die wirklich ganz schweren Monate“, warnt auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach: „Die nächsten zwei Monate werden die härtesten der Pandemie werden.“ Markus Gabriel, Philosophieprofessor aus Bonn und Autor des Bestsellers „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“, sieht die Menschen in diesem Winter in einer „Phase der Verzweiflung“.

Dieses Stadium habe schon der französische Schriftsteller Albert Camus in seinem Roman „Die Pest“ beschrieben: „Dort haben sich die Menschen am Ende in ihr Schicksal ergeben“, schildert Gabriel. „Sie haben nicht mehr die Hoffnung, dass es einen schnellen Weg aus der Katastrophe gibt. So eine Phase der Verzweiflung nehme ich zurzeit auch bei uns wahr: Lockdown ohne Ende, keine Spur von Zuversicht.“

In jedem Fall ist der Corona-Winter eine einsame Zeit. Und er hat die schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen. Als es im März losging mit Corona, überwogen Erschrecken und Erstaunen, die unwirkliche Situation hatte für viele aber auch den Reiz des Neuen. Im Sommer konnte man die Pandemie fast vergessen. Deutschland fuhr wieder hoch, machte wieder auf.

Dann fielen die Blätter, und Corona bekam ein Comeback. „Jetzt sind wir in einer wahnsinnig komplizierten zweiten Welle, die erheblich schlimmer ist als die erste, wahrscheinlich viermal schlimmer, wenn man sich die Todeszahlen anschaut“, sagt Philosophieprofessor Gabriel. Man kann jetzt vielleicht nachfühlen, warum sich die Menschen jahrhundertelang vor dem Winter gefürchtet haben: Er war dunkel, er war kalt, er bot wenig Nahrung. Viele starben im Winter.

Dazu kommt laut Gabriel, dass viele Menschen durch widersprüchliche Botschaften der Politiker frustriert sind. „Erst heißt es: ‚Wir machen Lockdown Light, damit wir an Weihnachten mit unseren Liebsten zusammen sein können.’ Dann kommt Weihnachten, und es wird gesagt: ‚Verlasst das Haus nicht, trefft keinen!’ Das haben die Menschen nicht vergessen. Es war ein gefährlicher Kommunikationsfehler.“

Millionen sind jetzt schon seit Wochen auf die eigenen vier Wände zurückgeworfen. Die Welt ist klein geworden, aber die Entschleunigung, die mancher Zukunftsforscher zu Beginn der Pandemie noch rosarot vorausgesagt hat, die will sich nicht einstellen. Eltern rotieren zwischen Homeoffice und Homeschooling. Kinder sehen ihre Spielkameraden nicht mehr. Teenies hängen abends auf der Straße ab, weil alles geschlossen hat. Bei den Erwachsenen beschränken sich Treffen auf die beste Freundin.

Und dann gibt es Bilder gut gefüllter Schneegebiete. Gabriel kann verstehen, wenn manche jetzt dem Lockdown entfliehen und in den Schnee fahren. „Ich würde es für einen Mangel an demokratischem Gemeinsinn halten, wenn wir kein Verständnis dafür hätten, dass die Menschen nicht in einem Lockdown sein wollen.“ Die meisten hätten indes „ein sehr hohes Verantwortungsbewusstsein“.

Zum Glück gibt es auch einen Lichtblick – den Impfstoff. Er hat das Potenzial, die „Phase der Verzweiflung“ zu beenden. Doch Gabriel ist nicht sicher. „Die sozialen Netzwerke können den Impfstoff diskreditieren.“ Die Impfwilligkeit in den Pflegeberufen liege unter 60 Prozent. „Warum? Weil sich die Menschen ihre Informationen von Facebook holen und dort steht: ‚Der Impfstoff ist gefährlich.’“

Je länger der Winter dauert, desto größer dürfte der Leidensdruck werden – und der Hunger nach dem alten Leben. Es ist ausgerechnet der als „Spaßbremse“ und „Schwarzmaler“ geschmähte Karl Lauterbach, der Mut macht: „Ich gehe von einem sehr befreiten, sehr guten Sommer aus“, sagt er. „Dann wird das Schlimmste hinter uns liegen. Wir werden einen viel besseren Sommer haben als viele jetzt denken.“

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